1893 - 1906 oDER NATURALISMUS |
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In seiner naturalistischen Phase malt Mondrian etwa 350 Bilder, das sind fast ein Drittel seines Gesamtwerkes. Ich sage „etwa 350“, da man natürlich zwischen der naturalistischen Phase und der nachfolgenden Entwicklung in Richtung Expressionismus keinen klaren Schnitt ziehen kann. So können einige der zwischen 1907 und 1908 geschaffenen Werke noch als naturalistisch gelten, während andere schon durch einen betonteren Farbgebrauch gekennzeichnet sind.
Die ausgewählten Werke bezeugen die Vielfalt der Motive, an denen sich der junge Künstler inspirierte; in manchen Fällen lassen sich Aspekte hervorheben, die den weiteren Verlauf seiner Entwicklung entscheidend prägen. Mondrian malt zwischen 1893 und 1907 vorwiegend Stillleben, Portraits und vor allem Landschaften. Die Arbeiten der naturalistischen Phase enthalten Bleistift- oder Kohlezeichnungen, Aquarelle und Ölbilder
In den Stillleben kombiniert der Maler menschliche Artefakte (Teller, Vasen und Flaschen) mit natürlichen Produkten (Frucht, Fisch und Blumen) und bringt dadurch angenehme Kontraste zwischen genau bestimmten und organischen Formen hervor - harmonische Abwechslungen von Linien, Flächen und Volumen, die sich in Wechselwirkung öffnen und wieder schließen und dabei in formaler wie farblicher Hinsicht gut ausbalancierte Kompositionen erzeugen.
Die Landschaften sind dem ländlichen Hinterland der Niederlande entnommen: Häuser, Kirchen, Bauernhäuser und Alltagsszenen, Wälder und Baumreihen, vor Anker liegende Schiffe oder Windmühlen, die sich gegen den Horizont abheben.
In manchen Landschaften beschreibt der Künstler die Szenerie mit einer gewissen Detailversessenheit, in anderen scheint es ihm eher um die große Linie zu gehen
Oft malt Mondrian Flusslandschaften. Manchmal dient ihm die Spiegelung von Bäumen und Häusern im Wasser zur Betonung oder besser: Vervollständigung von Teilobjekten: In dem drittes Bild vom Links spiegeln sich die gekrümmten Baumprofile im Fluss und bilden eine ovale Form, die Totalität evoziert.
Oft malt Mondrian auch im Abend- und Mondlicht. Anders als das Sonnenlicht, das die Farben durch die Erzeugung von Widerspiegelungen und Schatten betont, die wiederum die Vielfalt der Landschaft noch steigern, ist das Licht, das vom Mond ausgeht, matt und macht es möglich, die Landschaft in ihren großen Linien zu sehen. Die Einzelheiten sind reduziert und die Vielgestaltigkeit der Natur tritt synthetischer auf.
Was die menschlichen Figuren betrifft, so handelt es sich um verschiedene Charaktere. Einige Portraits sind im Auftrag gemalt, in anderen Bildern verfolgt Mondrian eigene Interessen. Letztere sind meistens weibliche Figuren, oft in nachdenklichen Haltungen oder zusammen mit einer oder mehreren Blumen dargestellt. Die weibliche Figur mit einer oder mehr Blumen ist ein Sujet, das mit den theosophischen Theorien zusammenhängt, für die sich der Maler damals interessierte.
Die von Mondrian gemalten menschlichen Figuren sind nicht jene von Renoir, Van Gogh oder Picasso der blauen und rosa Periode; es handelt sich nicht um Charaktere, die dabei sind, eine alltägliche Handlung auszuführen. Was Mondrian in der menschlichen Figur sucht, ist nicht der besondere Aspekt einer Person in ihren flüchtigen Emotionen und Situationen, sondern wahrere und tiefere Humanität. Was ihn am Gesicht interessiert, sind die Augen – ein Fenster zur Seele. In der äußeren Erscheinung eines Gesichts möchte er eine geheime innere Realität erfassen.
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Mondrian ist von der Einfachheit einer Blume angezogen und betrachtet zugleich deren Komplexität.
Wie oben schon gesagt, sehen wir, wenn wir eine Blumenwiese aus einer bestimmten Distanz betrachten, eine homogene Farbausdehnung, die sich aus dem Blickfeld verliert. Je näher wir an die Blumenwiese herankommen, desto mehr zerfällt diese homogene Fläche in eine Vielfalt von Teilen (einzelnen Blumen), in Farbflecke, die aus der Nähe betrachtet allesamt eine große Komplexität enthüllen. Das Ganze (Blumenwiese) wird Teil (einzelne Blume) und dieses Teil entpuppt sich erneut als ein Ganzes (die komplexe Struktur einer Blume).
Mondrian 1919: "Das Eine erscheint uns nur als eins, in Wirklichkeit ist es auch eine Dualität, ein Ganzes. Jedes Ding zeigt im Kleinen erneut das Ganze. Als Komposition ist der Mikrokosmos dem Makrokosmos gleich, sagt der Weise. Wir haben daher nur jedes Ding an sich selbst zu betrachten, das Eine als ein Komplex. Und umgekehrt ist jedes Element eines Komplexes als Teil eines Ganzen zu sehen. Dann sehen wir stets die Beziehung, dann können wir stets das Eine durch das Andere erkennen."
Einige Blumen sind in ihrer vollen Blüte gemalt (1, 2, 6); andere sind in ihrem langsamen, unaufhaltsamen Welken dargestellt (3, 4); ein Prozess, der die natürlichen Lebenszyklen evoziert.
Die Blütenblätter einer Blume sind geradlinig (5), doch bilden sie insgesamt einen Kreis; die gerade Linie liegt im Kreis.
Der unbegrenzte Horizont des Meeres erscheint uns wie eine gerade Linie, doch ist er in Wirklichkeit rund. Ist nun das, was wir sehen, die wahre Wirklichkeit?
Wie Cézanne greift Mondrian oft auf ein gleiches Motiv zurück, um es in verschiedener Art zu malen. Nehmen wir zum Beispiel eine Reihe von Stillleben und betrachten wir ihre gemeinsame Charakteristik:
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Die Äpfel auf dem ersten Bild liegen durcheinander auf einem Tisch; jeder Apfel hat eine andere Position und ein anderes Aussehen.
In den anderen vier Bildern sehen wir zusätzlich zu den Äpfeln einen großen runden Teller, der durch seine senkrechte Aufstellung einen kreisförmigen Hintergrund der Äpfel bildet. In den beiden letzten Bildern sieht man neben dem Teller auch eine Vase; nun steht der Teller gegen die Wand gekehrt und sein Untersatz erscheint wie ein Kreis von analogen Proportionen zu denen der Äpfel. Ein solcher Kreis findet sich im Zentrum der Komposition; dies gilt vor allem für 10.
Zwischen diesem vollkommenen Kreis und den unvollkommenen Kreisen der Äpfel entsteht eine Beziehung, als wolle der Maler die veränderliche Erscheinung der natürlichen Formen (Äpfel) und eine beständige und genauere Form (den Kreis des Tellers, d.h. einArtefakt des Menschen) aufzeigen. Der vollkommene Kreis in der Mitte evoziert eine ideales Modell der variablen und vielgestaltigen natürlichen Erscheinung.
Das erste Bild ist von 1897; das zweite von 1900 und die letzten zwei sind von 1901. Natürlich hat Mondrian die fünf Werke nicht in dem logischen Zusammenhang realisiert, in dem wir sie jetzt erklären. Doch hat er im Zuge ihrer Realisierung, ohne sich dessen bewusst zu werden, einen Faden verfolgt, über den in einem Zeitraum von drei Jahre das erste mit dem letzten Werk verbunden ist.
Der Künstler malte viele Landschaften, wobei er manchmal zu Themen zurückkehrte, die ihm offensichtlich etwas sehr Genaues suggerierten.
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In anderer Weise zeigt sich etwas Ähnliches in 12 und 13. 11 zeigt ein kürzliches aufgenommenen Foto von einem änlichem Ort wo sich der Künstler inspiriert habe.
Von einigen Bäumen eines Buchenwaldes malt der Maler nur die Stämme. Jeder Stamm hat sein eigenes Aussehen. Insgesamt drücken sie die in der Natur zu beobachtende Verschiedenartig. Die Bodenlinie im Hintergrund scheint sich im oberen mittleren Bereich der Komposition mit den Stämmen vereinigen zu wollen.
In diesem Bereich werden die vertikalen Stämme und die vorwiegend horizontale Linie des Bodens zu ein- und demselben. Der Eindruck entsteht, als ginge es dem Künstler vor allem um den Ausdruck des Kontrastes zwischen der horizontalen Bodenlinie und den vertikalen Linien der Stämme, um dann die beiden gegensätzlichen Richtungen in eine einheitliche Synthese zu überführen.
Es ist, als wolle Mondrian die vor ihm liegende grenzenlose Weite der Naturlandschaft, die ihm als eine vorwiegend horizontale Ausdehnung erscheint, konzentrieren.
Während die vielfältige und vielgestaltige Erscheinung der Natur in Wood with Beech Trees (13) mit den Baumstämmen, in Apples, Ginger Pot and Vase on a Ledge (10) mit Äpfeln zum Ausdruck kommt, ist im zentralen Bereich dieser Bilder eine Andeutung von einheitlicher Synthese zu sehen: das Zusammenfließen von Vertikale und Horizontale in Wood with Beech Trees (13), der präzise Kreis der Platte in Apples, Ginger Pot and Vase on a Ledge (10).
Der Künstler malt verschiedene Arten von Landschaften, wobei er manchmal auf ein gleiches Motiv zurückkommt, das ihm offenbar etwas ganz Bestimmtes bedeutet.
Um nur einige Beispiele zu nennen: Eine Ansicht eines Flusslaufes (des Gein) mit einer Reihe von Bäumen (14, 15 , 16, 17)
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Wir sehen hier vier verschiedene Versionen desselben Motivs: ein Bauernhof, der im Zentrum der Komposition steht und von einer Baumreihe entlang eines Flusses umgeben ist. In den ersten drei Versionen beschreibt der Künstler die Szene mit einer gewissen Detailfülle, während die Hand in der vierten Version einer schnelleren Form der Vision zu folgen scheint, die darauf abzielt, das Ganze zu erfassen, anstatt bei den Details zu verweilen.
Der Fluss wird als horizontale Linie dargestellt, die durch den zentralen Bereich der Bilder verläuft und den grenzenlosen und sich ständig verändernden Raum der Natur auszudrücken scheint. Während der Fluss den kontinuierlichen und variablen Raum der Natur evoziert, suggeriert der Bauernhof (eine vom Menschen geschaffene Ergänzung der Natur) ein Element der Stabilität.
Das gewölbte Profil der Bäume spiegelt sich im Fluss, um eine ovale Form zu schaffen, die ein Gefühl der Ganzheitlichkeit suggeriert. Das Oval suggeriert den Wunsch, die fließende Ausdehnung des Flusses einzudämmen und die Natur in ihrer Ganzheit zu betrachten. Mondrian: "Ich war beeindruckt von der Weite der Natur und versuchte, Ausdehnung, Ruhe und Einheit auszudrücken".
Das Einheit suggerierende Oval bleibt jedoch zu den Seiten hin offen, das heißt zum grenzenlosen und sich ständig verändernden Raum der Natur, den der Fluss evoziert. Jeder menschliche Versuch, die unendliche Vielfalt der Natur auf einmal zu begreifen (die ovale Form), würde dem Künstler prätentiös erscheinen. Während der kubistischen Phase (1911-1915) bediente sich Mondrian häufig wieder des Ovals, um die Fragmentierung des kubistischen Raumes einzudämmen.
In der vierten Version scheint ein schwarzes Segment, das dem Dach des Bauernhauses entspricht, dazu bestimmt zu sein, den kontinuierlichen Flusslauf des Flusses, der sich grenzenlos über die Leinwand hinaus erstreckt, zu stoppen und in sich selbst zu konzentrieren. Das schwarze Segment suggeriert eine Konzentration der Flussausdehnung, d.h. eine Art Synthese des unendlichen Naturraums. Beachten Sie, wie das Element, das eine Synthese suggeriert, in der Mitte der Komposition platziert ist. Dasselbe wie in Wood of Beech Trees (13) und Apples, Ginger Pot and Plate on a Ledge (10).
In den Bildern dieser Jahre, handele es sich nun um Stillleben oder Landschaften, sieht der Künstler eine Natur, die einerseits ihre Erscheinungen vervielfacht und das Bewusstsein zur Betrachtung eines ausgedehnten und vielgestaltigen Raumes anregt, und die sich andererseits gleich bleibt. Der Blick des holländischen Malers richtet sich auf die Vielfältigkeit der besonderen Erscheinungen, ohne dabei zu vergessen, dass die ganze Verschiedenartigkeit im Grunde eine unauflösliche Einheit ausmacht.
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Wir sehen hier eine Ansicht des Flusses Gein mit einer Reihe von Bäumen, von denen sich einer von den anderen abhebt (wieder in der Mitte der Komposition). Zwischen 1908 und 1912 sollte sich Mondrian auf die Form eines einzelnen Baumes konzentrieren.
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Another theme repeatedly addressed around 1900 is a landscape at the center of which we see a village church. It is the S. Jakob's Church in the village of Winterswjik where the artist's family has been living in. After three preliminary studies, Mondrian represents the scene from a particular viewpoint which allows him to express contrast between the chaotic web of the tree branches and the rectilinear and precise vertical silhouette of the church tower. The branches develop toward all possible directions contrasting one another, whereas the church tower in the center firmly and unequivocally points upward. I see here a metaphor of the contrast between the natural and the spiritual. It seems as if through the contrast between the natural landscape and the architectural skyline the artist wants to evidence on one hand the unpredictable course of nature and on the other the stability human beings need to carry on their life. Same as the branches, the hedgerow at the bottom, with some chickens behind, evoke the unceasing, uncatchable flowing energy of nature. In 1909, the artist was to paint 22 where a church facade and a tree merge together. The compenetration of the spiritual and the natural will be the leit motif of Mondrian's lifetime work.
Ein weiteres Thema, das um 1900 immer wieder aufgegriffen wird, ist eine Landschaft, in deren Zentrum wir eine Dorfkirche sehen. Es ist die St. Jakobskirche in dem Dorf Winterswjik, in dem die Familie des Künstlers lebte. Nach drei Vorstudien stellt Mondrian die Szene von einem bestimmten Standpunkt aus dar, der es ihm ermöglicht, den Kontrast zwischen dem chaotischen Geflecht der Baumäste und der geradlinigen und präzisen vertikalen Silhouette des Kirchturms auszudrücken.
Die Äste entwickeln sich kontrastierend in alle möglichen Richtungen, während der Kirchturm in der Mitte fest und eindeutig nach oben zeigt. Ich sehe hier eine Metapher für den Kontrast zwischen dem Natürlichen und dem Geistigen. Es scheint, als ob der Künstler durch den Kontrast zwischen der natürlichen Landschaft und der architektonischen Skyline einerseits den unvorhersehbaren Lauf der Natur und andererseits die Stabilität, die der Mensch braucht, um sein Leben weiterzuführen, belegen will. Ebenso wie die Äste evoziert die Hecke am unteren Bildrand, hinter der sich einige Hühner befinden, die unaufhörliche, uneinholbare fließende Energie der Natur. Im Jahr 1909 sollte der Künstler Church at Domburg with Tree (22) malen, wo eine Kirchenfassade und ein Baum ineinander übergehen. Die Kompenetration des Geistigen und des Natürlichen wird das Leitmotiv von Mondrians Lebenswerk sein.
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Betrachten wir noch ein anderes Thema, das um 1900 öfters wiederkehrt. Es handelt sich um eine Landschaft, die einen Baum darstellt, der sich gegen einen Wasserlauf abhebt. Mondrian malt davon mindestens acht Versionen.
Der Baumstamm drückt eine vertikale Linie aus, die sich im oberen Bereich, dort wo die Äste beginnen, horizontal ausbreitet. Der Wasserlauf dagegen erscheint wie eine Vertikale, die sich in ihrem Abstieg von oben nach unten horizontal öffnet. Der vertikale Stamm bricht von unten nach oben horizontal auf. Gleiches tut der Wasserlauf, nur umgekehrt. In der Mitte der Komposition treffen beide Tendenzen aufeinander und evozieren eine Durchdringung gegensätzlicher Realitäten. Wie in 5 sehen wir auch hier die Anfänge jener Dialektik der Gegensätze, die das ganze folgende Werk des holländischen Malers bestimmen wird.
Zweifellos ließe sich nun in der Untersuchung der naturalistischen Werke weiter fortfahren, und ich bin sicher, es fänden sich weitere bemerkenswerte Aspekte, doch, wie gesagt, möchte ich bei den Werken dieser Phase nicht länger verweilen, sondern zu den folgenden Phasen übergehen, die zu den eigentlich abstrakten Werken führen. Eine detailliertere Untersuchung der naturalistischen Phase des holländischen Meisters, die sicherlich einer vertieften und kompletten Betrachtung bedarf, möchte ich hier deswegen bis auf weiteres vertagen.