1907 - 1911 oEXPRESSIONISMUS UND SYMBOLISMUS |
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Von Mitte des 19. Jahrhunderts ab ging im Leben der Menschen eine große Veränderung vor: der Industrialisierungsprozess und die damit einhergehenden sozialen Umwälzungen; das Auftauchen der Fotografie - eines magischen Mittels, eine Szene in Echtzeit zu ‚malen’; die Beschleunigung der Geschwindigkeit, mit der die Menschen reisen und die Umwelt erfahren. Die impressionistischen Maler teilen die Wahrnehmung einer sich wandelnden Welt und führen das entsprechende Lebensgefühl in ihre Bilder ein. Das Schwergewicht liegt nicht auf den immanenten und dauerhaften, sondern alltäglichen und flüchtigen Seiten des Lebens.
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1893 malt Monet verschiedene Versionen der Fassade der Kathedrale von Rouen und zwar zu je verschiedenen Zeiten des Tages; je nach Licht und Augenblick erscheint die imponierende und solide Kathedrale anders. Das Licht lässt die Dinge verschieden aussehen.
Das Licht ist nichts, was sich von oben auf die Dinge legt, sondern schimmert aus diesen selbst hervor, nimmt über die Raumposition von Mal zu Mal einen anderen Ausdruck an. Für die Impressionisten ist das Licht der Raum.
Schatten sind keine dunkleren Töne einer angenommenen immanenten Farbe des Objekts, wie die Meister des Akademismus lehrten, sondern haben eine eigene Farbe und sind oft die Resultante mehrerer, dynamisch balancierter Farben. Es geht darum, das Licht in seine Grundbestandteile, d.h. Farben aufzubrechen.
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Farbe und Zeichen erlangen eine eigene Autonomie und verdeutlichen das Gefühl des Malers angesichts der Realität.
1889 malt Gauguin eine Kreuzigung mit einem gelben Christus und roten Bäumen. Im selben Jahr malt Van Gogh einen bestirnten Nachthimmel, in dem jeder Stern zu einem Wirbel aus Licht und Energie wird, der den ganzen Himmel überzieht. Die Landschaft wird nicht mehr so gemalt, wie sie erscheint, sondern wie sie der Maler sieht oder besser: in sich empfindet.
Edvard Munch malt eine menschliche Figur (ob Mann oder Frau, ist nicht erkennen), die auf einer Brücke einen Schrei loslässt. Über gewundene Linien, die sich über die ganze Bildfläche erstrecken, ist der äußere Raum von diesem Schrei erfüllt. Der ganze Himmel verwandelt sich in einen Schrei, der mit der roten Farbe einen schrillen Charakter erhält. Das Innere des Künstlers durchdringt und wühlt die gewöhnlichen Erscheinungen der Außenwelt auf.
In den Fußstapfen der Impressionisten legen Seurat, Signac, Matisse, Derain, De Vlamick noch mehr Gewicht auf den Gebrauch der Farbe und ziehen abermals den empörten Protest eines Kritikers auf sich, der sie als „fauves“ (Tiere) bezeichnet.
Matisse: "Ich kann den Sessel neben mir im Atelier und die Wolke im Himmel, das Rauschen der Palme am Ufer zusammenbringen, ohne die Orte unterscheiden zu müssen, ohne die verschiedenen Elemente meines Motivs zu dissoziieren, die alle ein Ganzes in meinem Geist sind." |
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Die äußere Realität bildet sich im Innenraum des Bewusstsein, aus dem sie auch ihren Sinn bezieht. Das ist wohl auch immer so gewesen und gilt für jede menschlichen Aktivität. Damals jedoch scheinen die sensibelsten Maler diese fundamentale Wahrheit noch einmal hervorheben zu wollen.
Das Licht von Monet, das alles entwickelt und formt, wird mit Cézanne zur Suche nach einer solideren Raumstruktur, die Veränderung und zugleich eine gewisse Dauerhaftigkeit ausdrücken kann. So sagt der Franzose: "Die Natur ist immer dieselbe, doch von ihrer Erscheinung bleibt nichts übrig. Unsere Kunst muss ihr den Schauer der Dauerhaftigkeit, den Geschmack der Ewigkeit geben."
Wie Mondrian möchte Cézanne unter den veränderlichen Erscheinungen der äußeren Welt ein Zeichen größerer Beständigkeit finden. Alles in der Natur ist nach der Kugel, dem Kegel und dem Zylinder gebildet. Man muss lernen, in diesen einfachen Figuren zu malen. Danach kann man alles machen, was man will. Auf der Suche nach einem Weg, die unerschöpfliche Verschiedenartigkeit der Welt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, schlägt der französische Maler in einem rein propädeutischen Sinne vor, die Natur in elementaren Formen zu sehen: Kugel, Kegel und Zylinder. Um sich mit der veränderlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen beschäftigen zu können, braucht er einen festen Stützpunkt. Angesichts einer Realität, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer Erscheinungsweise vervielfacht, bemüht sich Cézanne um Konzentration und Einheit. Mit der Integration verschiedener Ebenen in eine einzige Ebene geht sein Werk in die Richtung einer Abschaffung der perspektivischen Illusion einer dritten Dimension. Objekte und Raum durchdringen sich mehr und mehr; das Volle und das Leere werden gleich wichtig.
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Das gilt auch für Mondrian. Vom Leuchtturm der Westkapelle (siehe nebenstehendes Photo) fertigt der Holländer eine Zeichnung (30.2) und einige Ölbilder an (28) (25.5, 26.2, 30.4). In den Bildern verschwindet die Detailtreue, die noch auf der Zeichnung zu bemerken ist. In 28 wird das Volle und Leere so behandelt, als sei es eine einzige, ununterbrochene Ebene. In der punktförmigen Struktur finden Objekt und Raum einen gemeinsamen Nenner.
Matisse: "Der Maler sollte sich nicht mehr um die Details kümmern. Diese bekommt die Photographie hundertmal besser und schneller hin. Objekt der Malerei ist nicht länger die Beschreibung der Geschichte, denn die findet sich in den Büchern. Von der Kunst haben wir einen höheren Begriff. Was der Künstler mit der Malerei ausdrückt, ist die eigene Innensicht."
Zwischen dem Ende des 19.Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verwenden die Maler die Farbe mehr oder weniger zur Betonung ihrer Interpretation der sichtbaren Welt. Zwischen 1907 und 1908 beginnt auch Mondrian, nachdem er lange auf naturalistische Art gemalt hat, Farben einzusetzen, die eher seiner Innensicht entsprechen als der unmittelbaren Erscheinung der Dinge.
Ein Wald in der Nähe der Stadt Oele (2) weist von den in der Natur gewohnten Farben keine einzige mehr auf. An die Stelle von Grün, Braun, Ocker treten Blau, Rot und Gelb – Farben, die einen dynamischen Raum für intensive und widersprüchliche Gefühle des Künstlers gegenüber der Natur eröffnen. |
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2: Der Gegensatz zwischen Horizontalen und Vertikalen erzeugt im Hintergrund eine horizontale, gewundene Linie (durch gelbe Punkte betont), die in ihrem wellenförmigen Verlauf die vertikalen Impulse der Stämme aufzunehmen scheint. Weiter oben schmiegt sich die gekrümmte Form einiger Stämme dem Kreis einer Sonne an. Der Kreis evoziert eine Synthese der Horizontalen und Vertikalen. Einer änlicher Hinweis auf eine Synthese zwischen Gegenteile so wie in 1 gesehen.
Man könnte sagen, dass Mondrian zu diesem Zeitpunkt vor allem einen starken Kontrast ausdrücken will – nicht nur mit einer markanten Betonung der Farben, sondern auch mit einer zunehmenden Ausrichtung der Komposition auf einen deutlicheren Gegensatz der horizontalen und vertikalen Linien innerhalb eines gleichen Bildes (2) oder mit der Abwechslung von Bildern mit fast gänzlich horizontaler (3, 4, 5, 6) mit Bildern von fast gänzlich vertikaler Räumlichkeit (7, 8, 9 10).
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Tatsächlich zeigt sich bei der Betrachtung dieser Periode eine allmähliche Öffnung der Landschaften, die nun im Vergleich zu den ländlichen Szenen der vorangegangenen Jahre wie grenzenlose Weiten erscheinen. Die Landschaften werden allmählich von Bäumen, Häusern und jedem anderen Zeichen menschlicher Anwesenheit befreit und scheinen darauf ausgelegt zu sein, den unendlichen Aspekt des natürlichen Raums zu betonen.
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Zugleich wendet sich die Aufmerksamkeit des Malers einzelnen Objekten wie einer Windmühle, einem Leuchtturm oder der Fassade einer Kirche zu
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Eine Kirche, 1898 in einem natürlichen Kontext eingelassen (11), avanciert 1909-10 zum zentralen Motiv, das das ganze Bild besetzt (14); vom natürlichen Raum bleibt nur der Hintergrund des Himmels, der manchmal dieselbe materiale Konsistenz des Gebäudes annimmt.
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Fast scheint es, als wolle Mondrian bei der Betrachtung der Landschaft einerseits dessen natürliches Element herauslösen, das er nun mit einem vorwiegend horizontalen Raumidentifiziert (1, 2, 3, 4) , und andererseits umgekehrt, d.h. im vertikalen Sinn, das Profil der nicht-natürlichen Räume akzentuieren - die künstlichen, vom Menschen konstruierten Räume (Windmühlen, Leuchttürme, Kirchen) (5, 6, 7, 8).
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Gleichzeitig treten an die Stelle der vielen Bilder, in denen Baumreihen zu sehen sind, Bilder, die sich auf die Gestalt eines einzelnen Baumes konzentrieren 9, 10 , 11, 12), mit dem sich der Maler schon in den vorangegangenen Jahren sporadisch beschäftigt hatte.
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Ein anderes Motiv, das zwischen 1908 und 1910 wiederkehrt, ist das einer einzelnen |
Die meisten Landschaften haben das Meer und Die Gebäude sind der Leuchtturm der Westkapelle, |
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Photo of Lighthouse at Wewstkapelle |
Photo of Church at Domburg |
Photo of Church at Zoutelande |
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Der Raum der Dünenlandschaft verliert sich in die Ferne, und der Künstler nimmt die Natur in ihrer ganzen Weite wahr. Anders als bei den Landschaften der vorangegangenen Jahre, scheint man hier eine unberührte Natur zu sehen, die alles souverän beherrscht.
Jaffè schreibt: "Diese Düne war etwas Neues für ihn, eigentlich das erste Mal, dass die Natur in ihrer Weite und all-umfassenden Größe in seinem Werk auftauchte (...) Bevor er auf die Insel von Walcheren kam, war Mondrian der Natur in ihrer unendlichen Dimension, wie sie die Niederlande nur an der Küste, entlang der Dünen, besitzt, noch nicht begegnet (...). Seine Begegnung 1909 mit der Unendlichkeit der Natur fällt mit seinem Beitritt zur Niederländischen Theosophischen Gesellschaft zusammen, in der die Vereinigung des Menschen mit der Unendlichkeit des Universums eine große Rolle spielte."
Indem Mondrian dem absoluten Horizont der Dünen einen plötzlichen und massiven vertikalen Impuls (Architekturen) entgegensetzt, sorgt er für eine gegenseitige Durchdringung und Relativierung der gegensätzlichen Richtungen. Die Äste breiten sich zu den Seiten des Bildes hin aus, während der Stamm sie wieder ins Zentrum zurückholt. In der Gestalt des Baumes dehnt sich der Raum aus (Düne) und verdichtet sich zugleich (Architekturen).
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Mondrian hat sieben naturalistische Versionen des Baumes gemalt, unter denen sechs (zwei sind Zeichnungen) von 1908-09 datieren; die siebte von 1912 fällt in die kubistische Phase. (7).
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Unter den ersten sechs trägt eine (29) ein doppeltes Datum (1908-10), da es 1908 angefangen wurde, im Januar 1909 ausgestellt wurde und wahrscheinlich 1910 überarbeitet worden ist.
Die Dünen und Architekturen sind fast alle von 1909-1910, daher gleichzeitig mit oder kurz nach den Baumbildern entstanden. Gleichwohl glaube ich, dass die von den Bäumen evozierte Raumstruktur als eine Synthese des von den Dünen und Architekturen erzeugten Raumes angesehen werden sollte, auch wenn der Baum nach der Datierung leicht davor liegt. Es handelt sich nicht um eine Synthese im streng chronologischen Sinn, sondern auf visueller Ebene. Dies erscheint mir umso plausibler, als die Gestalt des Baumes zwischen 1911 und 1913 als Leitmotiv für den Übergang des naturalistischen in den kubistischen Raum zurückkehrt.
Zwischen 1908 und 1910 erblickt der Maler im Profil eines Baumes ein Symbol der horizontal-vertikalen Vereinigung und Balance, während sich mit den Dünen und den Architekturen der Raum einmal in die eine, einmal in die andere Richtung wieder öffnet.
Die Genesis des Stammes als eines vereinigenden Momentes kann auch in der Betrachtung der folgenden Werke als einer Sequenz nachgezogen werden:
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In der ersten Zeichnung sehen wir eine veränderliche Ausdehnung der vertikalen Stämme, die im zweiten Werk, in dem sich die horizontale Ausbreitung der Bodenlinie im Zentrum mit der Vertikale der Stämme vereinigt, einen Moment von einheitlicher Synthese finden. Die Vertikale verdichtet eine Horizontale, die sich zu den Seiten hin ausdehnt.
Im dritten Werk dreht sich der formale Aufbau von 2 um. Diesmal fungiert ein einziger Stamm als eine Synthese aller anderen. Man beachte, wie sich der Stamm nach oben hin in zwei Teile spaltet; das Eine geht in Zwei über und öffnet sich der Vervielfachung, die mit allen anderen Stämmen im Hintergrund Gestalt annimmt.
Im vierten Werk wird schließlich die vereinigende Funktion des Stammes unterstrichen, der eine Vielfalt von Ästen zusammenhält. Nun sind es die Äste, die jene Pluralität ausdrücken, die in den anderen Werken von den Stämmen repräsentiert waren.
In der ersten Zeichnung bilden die Stämme einen mannigfaltigen Raum; im zweiten Werk drückt die Mannigfaltigkeit eine einheitliche Synthese aus; im dritten und vierten Werk übernimmt ein Stamm die vereinigende Funktion und im letzten Bild üben die Äste die Funktion aus, die früher von den Stämmen ausgeübt worden war. Die ersten drei Zeichnungen datieren vom selben Jahr (1898-99), während 4 von 1908 stammt.
Auch hier stelle ich eine Beziehung zwischen einigen zeitgenössischen Werken und einem Werk her, das der Künstler erst acht Jahre später gemalt hat. Zwischen den ersten drei Werken und dem vierten hat Mondrian eine Anzahl von Landschaften, Stillleben und Portraits gemalt. Als sich der Maler 1908 auf die Figur eines einzelnen Baumes konzentriert, sind diese ersten drei Werke bereits zu den Akten gelegt, doch trägt der Samen, der sie erzeugte, immer noch Früchte.
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Wie oben gesagt, haben die Dünen, Gebäude und Bäume, die Mondrian in diesen Jahren malt, keinen Wert an solche. 1908 malt der Künstler einen Baum nicht,
um uns zu zeigen, wie er gemacht ist. Geht es dem Maler sicherlich um die Schönheit dessen, was er um sich herum sieht, so hat er doch auch das Gefühl, dass jede Beschreibung der äußeren Welt von den Koordinaten der Innenwelt abhängt und dass sich die beiden Realitäten (die wir simultan als ein einziges Phänomen wahrnehmen) in ständiger gegenseitiger Abhängigkeit befinden. Jedes Bild, das wir wahrnehmen, geht auf Stimuli des natürlichen Universums (eines unendlichen Raums) zurück, der sich in einen mentalen Raum übersetzt (einen Raum, der sich durch Sequenzen eines endlichen Raumes artikuliert und ausdrückt). Bei der Betrachtung des nebenstehenden Diagramms können wir die Beziehung zwischen den Gebäuden und den Dünen als den Anfang eines Prozesses der Durchdringung zwischen einem menschlichen Subjekt und dem grenzenlosen natürlichen Horizont interpretieren.
Im Baum konzentriert sich die Horizontale der Dünen im Stamm, der mit der Vertikale der Gebäude äquivalent ist.
Der Stamm erscheint wie eine ideale Projektion des Betrachters auf das Bild; zugleich findet eine mentale Aneignung des natürlichen Raumes durch den Betrachter statt. Der Stamm wäre daher eine Metapher des einheitsstiftenden Bewusstseins angesichts der unendlichen Verschiedenartigkeit der Welt.
Der Baum erscheint wie ein Universum en miniature, das sich durch Vermittlung des Stammes aus dem ununterbrochenen Fluss der Bodenlinie (jenem unendlichen Raum der Dünen) herauslöst. Der Baum kann daher als ein vielfältiger Raum betrachtet werden, der sich zugleich in seiner Einheit durchhält – im Unterschied zu den Dünen, die in ihrer ununterbrochenen Kontinuität unser Blickfeld zersetzen.
Um 1909 konzentriert sich der Maler auf einige Motive, die ihm die Herausarbeitung von Kontrast und Gegensatz ermöglichen. Die Wahl der antithetischen Formen und Farben zeigt die Notwendigkeit des Künstlers nach Ausdruck seiner inneren Welt, die von einer starken Dualität, zugleich aber auch von einem tiefen Streben nach Synthese und Einheit geprägt ist. Der Künstler ist von fundamentalen Fragen wie denen des Verhältnisses zwischen dem Einen und dem Vielfältigen, Geist und Materie umgetrieben.
In seiner Geschichte hat der Mensch die Natur als eine feindliche Macht empfunden. Selbst Teil der Natur, unterscheidet sich der Mensch doch auch von ihr. Im Leben des Individuums kommt es oft zu einem Konflikt zwischen den natürlichen Instinkten und dem, was wir Intellekt, Vernunft oder Geist nennen. Bereits im Leben der Individuen also gibt es einen Gegensatz zwischen einem Teil von uns, der der Natur näher steht, und einem Teil, der sich von ihr trennt und sich ihr nicht selten entgegensetzt.
Von der Steinzeit bis heute ist die Geschichte des Menschen ein langsamer und mühsamer Prozess der Befreiung von den Naturbedingungen gewesen: von Lehm- und Strohhütten bis zu Häusern aus Glas und Zement; vom Ochsen bis zum Traktor; von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von fünfunddreißig bis zu einer von fünfundsiebzig Jahren. Im Bestreben, seine eigenen Lebensbedingungen zu verbessern, greift der Mensch architektonisch in die Landschaft ein und verwandelt die Natur in ein Artefakt (die unzähligen Objekte und Werkzeuge, deren sich der Mensch zum Leben bedient).
Wie das Artefakt definieren? Als ein natürliches Produkt? Oder nur als ein menschliches Produkt? Und wenn der Mensch Teil der Natur ist, dann wären also die Plastik, der Zement und das Aluminium, mit denen er die Landschaft verändert, die Schwerkraft besiegt, um sich schneller zwischen den Kontinenten zu bewegen und seinen Fuß auf andere Himmelskörper zu setzen, das Produkt einer natürlichen Evolution?
Merkwürdiger Widerspruch: Durch die Natur hindurch schafft der Mensch eine Nicht-Natur.
Die Dünen repräsentieren die Natur; die Architekturen drücken das menschliche Kunstprodukt aus. Das Bedürfnis des Holländers nach Ausdruck eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt nimmt eine Bedeutung an, die über die einfache malerische Darstellung hinausgeht und zu einer philosophischen Grundfrage avanciert. Aus heutiger Perspektive kann sie, wie oben schon gesagt, die Beziehung zwischen Mensch und natürlicher Umwelt, d.h. die ökologische Frage in ihren vielfältigen Aspekten bedeuten, aber auch zum Beispiel die ethischen und philosophischen Aspekte einer biologischen Forschung, durch die der Mensch in die Mechanismen des natürlichen Lebens eingreift.
In der individuellen Sphäre betrifft die Äquivalenz der Gegensätze das unaufhörliche Bemühen um Ausbalancierung sei es der vorwiegend natürlichen (Instinkte) sei es der mehr spezifisch menschlichen Kräfte (Vernunft) in sich selbst. Die Beziehung zwischen Horizontale und Vertikale betrifft alle Gegensatzpaare, auf die Menschen in ihrem Versuch, die Unermesslichkeit des Lebens zu verstehen, zurückgreifen.
Mit den Dünen und den Architekturen drückt der Maler die radikalste Opposition (horizontal-vertikal) aus, die innerhalb des zweidimensionalen Raumes der Malerei möglich ist. Zugleich versucht er in der Gestalt des Baumes, die gegensätzlichen Impulse in einen Dialog zu bringen, wie um hier jene Synthese und Einheit zu realisieren, deren Aufforderung er tief in seinem Innern verspürt. Das sind Bedürfnisse, die über einzelne Bäume oder Dünen oder Kirchenfassaden hinausgehen; geistige Notwendigkeiten, die sich gleichwohl in passenden Farbverhältnissen und harmonischen formalen Lösungen ausdrücken.
Dass man beim Lesen dieser Erläuterungen nicht zugleich das leuchtende Grün und mitreißende Orange, die großartigen und tiefen Blautöne, die das lebhafte Gelb und das noch lebhaftere Rot dieser Bilder abschwächen, nicht genießen kann, ist jammerschade.
Einer der interessantesten Aspekte, auf den wir ausführlich zurückkommen werden, besteht darin, dass die Sensibilität des Holländers für philosophische und geistige Themen die Schönheit der Welt, ihre Farben und Formen nicht transzendiert, sondern sich in ihnen geradezu verkörpert.
Die Betonung des Verhältnisses zwischen Außenwelt und Innenraum, d.h. die Interpretation der Realität geschieht bei Van Gogh, den Fauves und dann den Expressionisten über das Mittel der Farbe. Mit dieser Annahme stimmt Mondrian seit der naturalistischen Phase zwar überein, gleichwohl erfährt die Frage bei ihm zwischen 1907 und 1910 eine Erweiterung und Vertiefung, die ihn von den Expressionisten unterscheidet. So geht er das Subjekt-Objekt-Verhältnis nicht nur über die farbliche Umsetzung der Sinnesdaten an (wie Van Gogh oder in diesen Jahren die Fauves und Expressionisten), sondern auch über die Suche nach einer soliden formalen Struktur (wie von Cézanne nahegelegt), was zu einer zunehmenden Ausrichtung der Kompositionen nach einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Horizontaler (als plastisches Symbol der Außenwelt) und Vertikaler (Symbol der Innenwelt) führt. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bringt Mondrian mit den Dünen, Architekturen und dem Baum das Werk von Van Gogh und Cézanne zusammen.
Öffnet Mondrian mit den Dünen das Bild dem unendlichen Raum der Natur, so holt er diesen mit den Architekturen für einen Moment wieder zurück, um ihn vor sich hinzustellen. Beide Bewegungen durchdringt sich im Baum. Wir befinden uns in den Anfängen eines den Künstler für den Rest seines Lebens beschäftigenden Dialoges zwischen zwei gegensätzlichen Richtungen - eines Dialoges, der nichts anderes bedeutet, als ein größeres Gleichgewicht zwischen Innen und Außen, menschlichem Subjekt und natürlichem Universum zu suchen.
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Schauen wir uns nun einige Werke näher an:
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Wir haben gesagt, dass die Meereslandschaften und die Dünen einen vorwiegend horizontalen Raum ausdrücken, und das ist wahr. Während einige Dünen jedoch einen tendenziell geradlinigen und einförmigem Raum vorstellen (1, 2, 3), zeigen andere eine leicht angehobene Horizontsilhouette (4, 5, 6). Dies fällt mit einer hypothetischen Achse durch die Mitte der Komposition zusammen.
2: Ein kleines Bild mit starken und konstrastierenden Farben, das gleichwohl ein glückliches und harmonisches Gleichgewicht ausdrückt. Blau, Gelb, Ocker, Magenta und vielfältige, dunklere bis hellere Zwischentöne wechseln sich ab; eine rasche Pinselführung schafft einen Rhythmus von Teilen, die von einem ununterbrochenen horizontalen Fluss zusammengehalten werden.
Im mittleren Bereich scheint sich ein gelber Akzent abzulösen und für einen Moment von der horizontalen Kontinuität zu isolieren. Auch in 3 ist ein dunkler Akzent zu bemerken, der mit einer mittleren Achse des Bildes zusammenfällt. Solche Akzente erinnern an das schwarze Segment, das wir im Zentrum von Geinrust Farm with Mist of 1906-07 bemerkt haben.
1, 2, 3: hebt die Kontinuität des natürlichen Raumes hervor, doch taucht im Zentrum ein Zeichen auf (in Form einer Wolke oder eines Farbakzents), das etwas Endliches innerhalb eines unendlichen Raumes ausdrückt, wie um eine Korrespondenz mit dem Punkt zu evozieren, von dem aus diese Landschaft betrachtet wird.
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In 7, 8, 9 und 10 ist eine gekrümmte Linien zu bemerken, die im unteren Bereich der Kompositionen den ganzen Raum in sich aufnehmen zu wollen scheint. Zusammen mit dem Horizont, der in manchen Fällen sich leicht nach oben krümmt, suggeriert diese Linie eine ovale Form. Deutlicher zeigt sich diese in 8 und 9.
Eine ähnliche Anspielung auf eine ovale Form haben wir bereits um 1906-07 (Geinrust Farm) beobachtet. Mitten in der kubistischen Phase (1913-1914) sollte Mondrian erneut und in noch expliziterer Form auf ein Oval zurückgreifen.
Die sich in einigen Bildern im Zentrum erhebende Horizontlinie (5 und 6) und die Akzente im Zentrum markieren jene Zone (1, 2 und 3), in der in anderen Bildern ein gänzlich vertikaler Raum Gestalt annimmt. Die Suggestion einer möglichen ovalen Form (8 und 9) scheint einem Raum, der sich mit den Dünen rastlos ausdehnt, mehr Beständigkeit geben zu wollen
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Ähnlich, aber umgekehrt zu dem, was wir gerade bei den Dünen gesehen haben, präsentieren die Architekturen ausschließlich vertikale Volumen (1, 2, 3, 4) und Volumen, in denen ein seitlicher Ableger zwischen der Vertikale des Gebäudes und der Horizontale der Erde zu vermitteln scheint (5, 6, 7, 8). In 9 scheint man eine dünenartige Landschaft (im unteren Teil) zu sehen, die von einem Gebäude (im oberen Teil) durchdrungen wird. Betrachten wir die Gemälde dieser Periode, bemerken wir, dass manche Kompositionen – egal ob der Raum vorwiegend horizontal (Dünen) oder vertikal (Architekturen) ist – einen leicht gegensätzlichen Impuls evozieren, einen Impuls, der bei allem Einbegriffensein in der vorherrschenden Richtung wahrnehmbar bleibt. Einige Bilder zeigen eine flüssige Textur, die mit breitem Pinsel aufgetragen ist (1, 2, 3), während andere eine Fläche zeigen, die von kleinen punktförmigen Strichen aufgeteilt ist (4, 5, 6). |
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Gewisse Werke sind als "pointillistische" oder, wenn wir wollen, "divisionistische" bestimmt worden (4, 5, 6). Jedoch muss klargestellt werden, dass der „Pointillismus“ eines Mondrian mit den divisionistischen Erfahrungen eines Seurat, Signac, Cross nichts gemein hat. Anders als diese, die die punktförmige Struktur dazu benutzten, Lichtvariationen auf die Leinwand zu übertragen und festzuhalten, sucht der holländische Maler wie Cézanne in dieser Grundstruktur eine Art von gemeinsamem Nenner, der den Variationen der vielfältigen Formen und verschiedenen Farben, die der Raum der Welt dem Blick darbietet, zugrunde liegt.
Vor allem in 4 und 6 bildet das engmaschige Punktmuster einen starken Kontrast zwischen kalten (Azurblau) und warmen Farbtönen (Gelb und Orange). Es scheint, als wolle der Maler die zugrundeliegende Farbe durchschimmern lassen, um den Kontrasteffekt der Farbmaterien zu erhöhen. Mondrian sucht einen Raum in Spannung auszudrücken; dazu setzt er Gegensätze und starke Kontraste ein, die er dann in ein ausgewogenes Ganzes bringen möchte, um schließlich Harmonie auszudrücken.
Einige Dünen zeigen blaue Felder, die von einem Gelb und Rosa oder von smaragd-grünen Bereichen mit plötzlichen orangefarbenen Zonen durchzogen werden. In einigen Architekturen sieht man einen blauen Hintergrund mit roten Umrissen, oder eine Figur in Magenta auf grünem/blauem Grund. In manchen Fällen sind die drei Grundfarben präsent.
In diesen zwei Bildern ist der Farbkontrast sehr stark. Nach meiner persönlichen Erfahrung ist Rot/Blau der schwierigste in der Malerei auszubalancierende Kontrast. |
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Diese Gemälden drücken eine greifbare Materie aus, die jedoch nicht die Materie Van Goghs oder Munchs ist. Alles vibriert, doch ist der daraus entspringende Klang kein schriller Schrei, sondern eine tiefe und anmutige Tonalität.
In Bezug auf diese Werke habe ich die Bezeichnung Expressionismus benützt. Natürlich handelt es sich nicht um den Typus von Expressionismus, der sich - vor allem in Deutschland, inspiriert von einer kritischen Einstellung zur Gesellschaft der Zeit und, allgemeiner, einer chronischen Malaise im Angesicht des typischen Kulturbetriebes in Nordeuropa - gegen 1910 entwickeln wird. Nie haben mir diese Bilder von Mondrian jenen Eindruck des unbeholfenen und aufgebrachten Raumes vermittelt, der sich in vielen Werken des deutschen Expressionismus bemerken lässt. Auch im schrillen Gelb, Magenta, Rot oder Grün dieser Bilder ist immer etwas Klassisches und Maßvolles. Für den Holländer ist die expressionistische Phase ein erstes Stadium in jenem Abstraktionsprozess, der ihn in seinem ganzen Leben leiten wird.
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Über die bislang besprochenen Sujets hinaus (Stillleben, Landschaften, Dünen, Gebäude, Bäume) schafft Mondrian zwischen 1900 und 1911 eine Reihe von Werken, die gemeinhin als symbolistisch bestimmt werden.
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Evolution, 1911 |
Ich beziehe mich auf weibliche Figuren in der Haltung der Kontemplation oder Ergebenheit, mit ein oder zwei Blumen als Symbolen des Gleichgewichts und der Reinheit. Die Blume, auf die das Mädchen schaut oder die zwei Blumen auf den Schultern der reifen Frau sind angeblich das Symbol eines innerlichen Reinigungsprozesses.
Ich glaube, dass die Rede von Symbolismus etwas übertrieben ist. Es handelt sich um Werke, die die Sensibilität des holländischen Malers gegenüber Themen allgemeinerer Natur zeigen und ein Interesse präludieren, das Mondrian der theosophischen Lehre entgegenbringen wird. Diese wird Werke wie Evolution bestimmen, aber nur eine Übergangsphase in der Herausarbeitung einer vollständig visuellen Sprache bilden. Nach Seuphor "..kann die Entwicklung des religiösen Denkens von Mondrian (...) daher wie folgt zusammengefasst werden: Der Calvinismus wird durch die Theosophie überholt, dann wird die Theosophie (nach 1916) vom Neoplastizismus, der alles ohne Worte ausdrücken muss, absorbiert."
In dieser Periode führt Mondrian oft Gespräche mit dem Freund Albert van den Briel über Themen geistigen Charakters. Der Maler liest Die Großen Eingeweihten von Eduard Schurè, das eines der wenigen Bücher sein wird, die er sein ganzes Leben lang aufbewahrt. Mondrian hatte nämlich die Angewohnheit, die Bücher zu verschenken, nachdem er sie gelesen hatte und dies, um gute Ideen zirkulieren zu lassen. Nach Schurè können "Eingeweihte" die universalen Wahrheiten hinter den veränderlichen Erscheinungen des alltäglichen Lebens wahrnehmen.
Der Symbolismus Mondrians zeigt sich in einer beschränkten Gruppe von Bildern, aus denen ich das m.E. repräsentativste: Evolution näher betrachte.
Evolution, 1911, Oil on Canvas, Central Panel cm. 87,5 x 183 Side Panels cm. 85 x 178 |
Das Werk besteht aus drei rechteckigen Tafeln von vertikaler Proportion, die nebeneinander gestellt ein Triptychon bilden. Im Vergleich zu den seitlichen ist die mittlere Tafel leicht erhöht, was als ein Zeichen seiner größeren Bedeutung in bezug auf die anderen interpretiert worden ist.
Das Bild repräsentiert drei fundamentale Stadien der geistigen Entwicklung eines Menschen. Die Figur scheint die einer Frau zu sein, tatsächlich jedoch ist sie aller weiblichen Charakteristik bar und will wahrscheinlicher ein Symbol des Menschlichen sein, d.h. sowohl des Männlichen wie des Weiblichen.
Wie oben gesagt, ist das Motiv der weiblichen Figur mit zwei Blumen von Mondrian zuvor schon einmal aufgenommen worden. Hier werden die Blumen zu geometrischen Formen, die ich gleichwohl weiter als Blumen benennen werde.
Die Kritik hat das Bild in folgender Weise interpretiert: Das Werk sei von der linken Tafel aus zu betrachten, dann sei zur rechten überzugehen, um die Betrachtung mit der mittleren abzuschließen. Die linke Tafel repräsentiere die Bedingung des Menschen im Stadium des Lebens, das sich noch unbewusst abspiele und mehr den emotionalen Impulsen des Augenblicks folge als einer klaren inneren Schau. Das Gesicht wird in der Tat im schlafenden Zustand gezeigt. Die rote Farbe der zwei Blumen evoziere die Sphäre der Leidenschaft. Das schwarze Dreieck im Mittelpunkt der zwei roten Blumen zeigen nach unten, um die Erde anzuzeigen.
Die rechte Tafel repräsentiere die Phase des Aufwachens des Geistes: die zwei Blumen erstrahlen in Gelb. Das schwarze Dreieck wird weiß und weist jetzt nach oben. Die mittlere Tafel schließlich mit der Figur mit den geöffneten Augen, repräsentiere das Erreichen eines voll bewussten Lebens.
In der Betrachtung von links nach rechts und dann wieder zur Mitte gehend, sehen wir daher die Entwicklung eines Menschen, der von einem sozusagen ‚blinden’ Lebenszustand zu einem Zustand des vollen Bewusstseins seiner selbst übergeht. In der Substanz mag diese Interpretation wohl richtig sein, entspricht jedoch in keiner Weise dem, was im Bild zu sehen ist.
Evolution, Diagram |
Mir scheint es zwar richtig zu sein, für die Interpretation von der linken Tafel auszugehen. Ich glaube jedoch, dass das zweite Stadium des Prozesses, d.h. die Phase des Erwachens, in der mittleren Tafel repräsentiert ist und nicht in der rechten, das meiner Meinung nach den Epilog des Entwicklungsprozesses darstellt.
Betrachten wir die beiden stilisierten Blumen, die sich in allen drei Tafeln seitlich des Gesichts befinden, so bemerken wir, dass sie in der ersten Tafel von roter Farbe sind und eine unregelmäßige Form mit nach oben deutender Spitze darstellen, zu der das gut sichtbare schwarze Dreieck im Gegensatz steht, das von Innen heraus nach unten zeigt. In der mittleren Tafel werden die beiden roten Blumen zu weißen Aureolen in Kreisform. Oberhalb ihrer bemerken wir zwei entgegengesetzte Dreiecke von weißer Farbe.
Man könnte sagen, dass diese beiden Dreiecke aus denen der vorhergehenden Tafel hervorgehen: In der ersten Tafel überwiegt das schwarze Dreieck (das nach unten zeigt) über das rote, das, auch wenn es nach oben gerichtet ist, noch ‚Gefangener’ des roten ist. In der zweiten Tafel entstehen die zwei Dreiecke aus der ‚Blume’, nehmen dieselbe Farbe an und erlangen daher in den Augen der Figur eine selbe Bedeutung: ein nach unten gerichtetes Dreieck spielt auf die Materie an, während ein nach oben gerichtetes Dreieck den Geist andeutet. Im Moment der Aufklärung sind sich Materie und Geist, Körper und Geist gleich.
In der dritten Tafel schließlich werden die beiden Dreiecke gelb und bilden in ihrer Durchdringung einen Stern mit sechs Ecken, der damit Synthese und Einheit zwischen unten und oben, Erde und Himmel, Materie und Geist anzeigt.
Die zunehmende Durchdringung der Dreiecke lässt verstehen, dass die mittlere Tafel nicht der Epilog, sondern ein Durchgangsmoment im Prozess ist, der von einem Zustand der Dualität (erste Tafel) zu einem der Synthese und Einheit der Gegensätze (dritte Tafel) verläuft.
Im Innern des sechseckigen Sterns sieht man ein kleines weißes Dreieck, das nach oben zeigt. Schon in den runden Aureolen der mittleren Tafel bemerkt man zwei leichte weiße, nach oben gerichtete Dreiecke. Damit soll wohl eine Prävalenz des Geistes gegenüber dem Natürlichen, das sich für das Leben des Menschen als notwendig hält, ausgedrückt werden.
Evolution |
Während der Aufklärungsphase (mittlere Tafel) scheint der gelbe Raum um den Kopf herum zum Bauch der Figur hin zu konvergieren (Diagramm 34.2 b), wie um die geistige Schau mit dem unmoralischeren und unteren Teil in einen kommunikativen Zusammenhang zu bringen. In dieser Tafel wohnt man einer Bewusstwerdung der Einheit von Körper und Geist bei.
In der ersten Tafel, in der das scharfe schwarze Dreieck nach unten zeigt und ein embryonales rotes Dreieck schwächer nach oben deutet, wird die geistig-materielle Dualität schwach wahrgenommen. Klar und leuchtend erscheint sie jedoch mit den zwei weißen Dreiecken, die sich in der zweiten Tafel deutlich entgegensetzen. In der dritten Tafel löst sich die Dualität schließlich in einer einheitlichen Synthese auf (gelbe Sterne).
Dass die dritte Tafel eine Synthese der beiden ersten ausdrückt, lässt sich auch aus anderen Einzelheiten folgern:
Evolution, Detail |
Die beiden Brustwarzen und der Bauchnabel sind in dreieckigen Formen ausgedrückt, die in der ersten Tafel nach unten zeigen, in der zweiten nach oben und sich in der dritten zu Rauten addieren, d.h. zu einer geometrischen Form, die aus zwei Dreiecken (einem nach oben und einem nach unten gerichteten) gebildet wird, die sich vereinigen.
In der rechten Tafel sind die Augen erneut geschlossen, doch ist das Gesicht im Vergleich zur linken Tafel weniger nach hinten gebeugt. Der Ausdruck des Gesichts in der linken Tafel zeigt fehlendes Bewusstsein, während das Gesicht auf der rechten mehr das eines heimlichen Bewusstseins zu sein scheint, erworben im Moment der Aufklärung und dann verinnerlicht. Dass es sich um einen Verinnerlichungsprozess handelt, zeigt auch das gelbe Feld der mittleren Tafel, das sich in den zwei Sternen der dritten Tafel konzentriert. Letztere machen das erreichte innere Bewusstsein sichtbar.
Auch die Farbe des Körpers ändert sich: In der ersten Tafel ist das Blau wärmer im Vergleich zum Blau, das in der mittleren Tafel zu sehen ist und noch mehr im Vergleich zum Blau der rechten Tafel, das als das kälteste von allen erscheint. Dies hängt sicherlich mit der Notwendigkeit zusammen, die Farbe Rot mit einem wärmeren Blauton auszubalancieren, doch glaube ich, dass dies auch aus dem Wunsch heraus geschieht, einen allmählichen Übergang des inneren Raums in den äußeren Raum (das Gelb und Himmelblau der mittleren Tafel sind in der Tat ein der Figur äußerlicher Raum) auszudrücken und umgekehrt einen Übergang von Außen nach Innen mit dem Gelb der mittleren Tafel, das sich in den zwei Sternen der rechten Tafel konzentriert, die, wie gesagt, das Innenleben ausdrücken. Von der linken zu mittleren Tafel hin findet eine Veräußerlichung des Innerlichen statt (das wärmere Blau geht vom Körper ins Äußere der Figur über) und dann von der mittleren Tafel zur rechten hin eine Verinnerlichung des Äußerlichen (das äußere Gelb konzentriert sich in den zwei Sternen, Symbolen der Innerlichkeit).
Veräußerlichung des Inneren und Verinnerlichung des Äußeren – dies ist in Synthese der Prozess, den jeder Mensch in seinem Leben durchmacht. Das Innere zu veräußerlichen, bedeutet, sich selbst in der Welt zu verkörpern. Das Äußere zu verinnerlichen, heißt, von der Erfahrung, die man in der Welt macht, zu lernen.
Ich bin daher geneigt, den Entwicklungsprozess als Darstellung des Übergangs von einem unbewussten Zustand (linke Tafel) zu einer Bewusstwerdung (mittlere Tafel), einer geistigen Schau (weit geöffnete Augen) zu lesen, die dann in der rechten Tafel, in der die gedachte Schau zu einer gefühlten Schau avanciert, wirklich eingenommen wird - eine Seelenschau, die, ohne noch zu schauen, alles sieht.
In der Tat leben wir nicht in einem permanenten Zustand der Aufklärung. Dies gilt nicht einmal für die inspiriertesten Mystiker. Es gibt den Moment der klaren Vision und dann den der Aufgabe dessen, was man verstanden hat, d.h. der Aufgabe des Glaubens, der es nicht mehr nötig hat zu sehen, um zu glauben.
Ich glaube, dass die Erhöhung der mittleren Tafel dazu da ist, ein Moment der besonderen geistigen Intensität anzuzeigen, das Mondrian, aber nicht nur Mondrian, mit der Vertikale verbindet. Der vertikale Impuls kontrastiert mit der horizontalen Sequenz der drei Tafeln und bestärkt daher die Betrachtung von links nach rechts. Die Erhöhung dient weniger der mittleren Tafel als vielmehr der rechten, in der die Figur sich in sich selbst konzentriert. Indem er sich der horizontalen Sequenz entgegensetzt, verstärkt der vertikale Impuls die letzte Etappe jener Sequenz, d.h. den Moment der Konzentration in sich.