1911 - 1915 oDER KUBISMUS |
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Im Oktober 1911 wird im Amsterdamer Stedelijk-Museum eine Ausstellung zur Internationalen Kunst der Moderne eröffnet. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen 28 Werke von Cézanne, einige kubistische Bilder von Braque und Picasso und Werke anderer Künstler. Mondrian wird gebeten, an der Organisation der Ausstellung mitzuwirken. Die kubistischen Werke werden einen starken Einfluss auf seine Arbeit ausüben.
Gewöhnlich setzt man den Beginn des Kubismus mit den Werken von Braque und Picasso an. In Wirklichkeit hatte die kubistische Revolution schon mit den letzten Bildern von Cezanne angefangen. Was ist Kubismus? Geprägt wurde der Begriff von einem Kunstkritiker, der eine Gruppe nebeneinander gestellter Volumen, in denen Braque eine Landschaft ausgeführt hatte, als Kuben gelesen hatte. Offensichtlich erklärt das nicht die wirkliche Bedeutung des Kubismus.
Bis zu diesem Zeitpunkt beruhte der Raumbegriff der Malerei auf der linearen Perspektive, einem System der visuellen Repräsentation, das sich in Italien zwischen Ende des 14. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entwickelt hatte. Der perspektivische Raum basiert auf einer konstanten Beziehung zwischen einem unbewegten Beobachter und einem Gegenstand, einer Reihe von Gegenständen oder einer Landschaft, wobei auch letztere dem Beobachter fast reglos gegenüberstehen. Damals bewegte man sich im menschlichen Schritttempo, einer Geschwindigkeit, bei der die Welt fast stehen zu bleiben scheint. Auch sozial, ökonomisch und politisch bewegten sich die damaligen Gesellschaften viel langsamer als heute. Am Anfang des 15. Jahrhunderts verspürte man das Bedürfnis, an ein symmetrisch verfasstes, messbares Universum zu glauben, in dessen Zentrum der Mensch stehe. Der Fluchtpunkt der Renaissance-Perspektive ist nichts anderes als die Projektion jener festen Stellung, aus der heraus der Mensch glaubte, das Universum beobachten und erkennen zu können, auf die Malfläche. Die ganze sichtbare Welt konvergiert in diesem einzigen Punkt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer drastischen Veränderung der Realität. Elektrizität, neue Kommunikations- und Transportmittel wälzen - vor allem in den Städten - die Gewohnheiten um und setzen nie gekannte Beschleunigungen in Gang. Der technische Fortschritt verändert die sozialen, ökonomischen, politischen Verhältnisse, vor allem aber das geistige Verhältnis des Menschen zur Welt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts werden bestimmte Gewissheiten, zu denen auch der Bildraum der linearen Perspektive gehört, von Philosophie, Wissenschaft und neuen Rhythmen des urbanen Lebens, die sich aus der zunehmenden Geschwindigkeit ergeben, untergraben. Vor allem in den Städten dynamisieren die neuen Lebensrhythmen die Beziehungen zwischen Beobachter und beobachteter Szenerie. Die Beschleunigungskräfte verwandeln die sichtbare Realität in flüchtige, verkürzte, ineinander übergehende Perspektiven; eine Landschaft, ein Gebäude oder ein Baum erscheinen in tausend verschiedenen Weisen in einer schnellen Abfolge von Gesichtspunkten.
1905 spricht Albert Einstein von der unauflöslichen Verschränkung von Raum und Zeit. In den ersten kubistischen Werken von Braque und Picasso verbindet sich die vierte Dimension (die Zeit) mit dem Raum; und auf der Leinwand nimmt ein Gegenstand alle jene Erscheinungsformen an, die sich aus einer beweglichen Beobachtungsposition heraus ergeben: die seltsamen Gesichter mit drei, vier, fünf Augen; die einzelne Flasche, die sich unter dem Blick eines um sie herum gehenden Beobachters zu vervielfachen scheint. Anders als die naturalistische Malerei ist der Kubismus eine Art, die Welt aus einer beweglichen Stellung heraus zu beobachten.
Für Mondrian wird der Kubismus auch und vor allem ein Mittel sein, seiner inneren Sicht der Realität konkrete Gestalt zu geben.
Was charakterisiert und verbindet im Bewusstsein des Beobachters alle jene Formen, die plötzlich erscheinen und im nächsten Augenblick wieder verschwinden?
Wie lange kann nun ein Baum, ein Gebäude oder eine Landschaft unter der Bedingung eines beweglichen Beobachters andauern? Welche Landschaft kann eigentlich noch im Bild festgehalten werden, wenn die Dauer so kurz ist, dass eine ‚selbe’ Landschaft in jedem Moment immer anders ist? Aus der Vielfalt der verschiedenen Landschaften muss eine gefunden werden, die alle anderen ausdrückt, ohne sich auf eine von ihnen festzulegen; es muss eine ‚Landschaft’ evoziert werden können, die das Wesen dieser ganzen flüchtigen Realität enthält. Eben diese Problematik war dem holländischen Maler schon bewusst, noch bevor er sich mit dem Kubismus auseinander setzte.
Seit 1908 nimmt Mondrian die "Landschaft" als ein Verhältnis zwischen Außen und Innen wahr. Schon mit den Dünen, den Architekturen und dem Baum entwirft der Maler den Raum als ein Subjekt-Objekt-Verhältnis.
Cézanne: "Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muss ihr das Erhabene der Dauer geben (...) Die Kunst muss ihr in unserer Vorstellung Ewigkeit verleihen."
Auch Mondrian spürt die Notwendigkeit, zwischen den veränderlichen Zügen der Welt und jener vom Bewusstsein geforderten größeren Beständigkeit und Einheit ein Gleichgewicht zu finden; die Voraussetzungen eines Abstraktionsprozesses sind in ihm schon gegeben. Die neue kubistische Optik, die das Subjekt in seinen veränderlichen Objektbeziehungen involviert, treibt mit der Eröffnung neuer formaler Lösungen die Entwicklungen an.
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In der ersten Hälfte des Jahres 1911 arbeitet der holländische Künstler an einer neuen Version der Dünen, an einer neuen Version der Kirchenfassade von Dornburg, an einer Mühle und am Triptychon Evolution.
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Im Sommer desselben Jahres nimmt der Maler das Thema des einzelnen Baumes in neuer kubistischer Sehweise wieder auf.
Auch wenn sich Mondrian zur gleichen Zeit an anderen Themen versucht, bildet doch die Gestalt des einzelnen Baumes das Leitmotiv im Zuge der Transformation des plastischen Raumes von der naturalistischen zur kubistischen Sehweise. Durch die Betrachtung von 5, 6, 7, 8 in einer Sequenz, können wir diesen Übergang synthetisch sichtbar machen.
1912 jedoch malt der Künstler eine andere Fassung des naturalistischen Baumes (9), die ihm als Ausgangspunkt für rein kubistische Werke, wie 10, dienen wird. |
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Anfang 1912 siedelt Mondrian nach Paris über, wo er eine Zeit lang an der Gestalt des Baumes weiterarbeitet, ohne sich deswegen einer Auseinandersetzung mit dem neuen urbanen Ambiente zu entziehen. Während sich der naturalistische Raum den Stimuli der neuen kubistischen Optik gegenüber öffnet, dient der Baum als Leitfaden. Im kubistischen Raum dehnen sich die Gegenstände aus und werden mit dem Raum, in den sie eintauchen, eins; voller und leerer Raum durchdringen sich und werden zu einer einzigen zusammenhängenden Struktur; in einer dynamischen Sichtweise wie der kubistischen, in der Objekte und Raum von einem Augenblick zum anderen ineinander übergehen – die Objekte sind der Raum, und der Raum ist die Fortsetzung und Metamorphose dieser Objekte – können Objekte und Raum nicht länger voneinander getrennt werden.
Das beherrschende Bildmotiv im Übergang zum kubistischen Raum bildet zwar der Baum, doch lässt sich Mondrian auch von anderen Motiven inspirieren; siehe etwa Stillleben mit Ingwertopf, von dem der Maler zwei Fassungen malt: eine 1911 (1) und eine 1912 (2), oder Landschaften (3 und 4), menschliche Figuren (5) oder das Meer (6). |
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Offensichtlich zählt jetzt nicht mehr die Erscheinungsform einzelner Dinge, sondern eine Raumstruktur, die alle Gegenstände in dynamischer Wechselwirkung vereint. Der naturalistische (oder figurative) Raum – modelliert nach der statischen und fixen Dingerscheinung – modularisiert sich und zwar nach dem Modell jener wechselhaften Form, die die Dinge annehmen, wenn sie unter dem Blick eines beweglichen Betrachters untereinander interagieren.
In der formalen Struktur des naturalistischen Baumes vereinigt, wie gesehen, der Stamm die Vielfalt der Äste.
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Die kubistische Transformation des Raumes sprengt die feste Gestalt des Baumes; Gegenstand und Raum durchdringen sich auf Kosten der einheitsstiftenden Funktion des Stammes, der sich in die Vielfalt der Äste auflöst (7, 8, 9, 10). Währenddessen lässt sich in einigen Bildern eine Verdichtung des Raumes in Richtung Zentrum beobachten (9 und 10); in 9 mit einem Ocker-Farbton, der zwei kurvenförmige Zeichen hervorhebt, die sich stärker als die anderen Zeichen zusammenschließen, fast wie um den Raum zusammenzuhalten; in 10 mit zwei Halbkreisen, die im mittleren Teil eine Synthese der Komposition zu evozieren scheinen. In 2 mit der blauen Vase, auch sie in der Mitte. Man vergleiche 2 mit 10: Zwei verschiedene Motive, aber eine analoge Komposition.
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Mit zunehmendem Verlust fester Objektformen sucht der Maler nach Kohäsion und Einheit der Komposition; sucht die Teile zu verankern, die in Ermangelung einer einheitsstiftenden Kontur der Gegenstände frei im Raum flottieren. Mondrian scheint einen Stütz- und Angelpunkt zu suchen.
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Mit der Auflösung des Stammes verwandelt sich der Raum des Baumes sehr bald in eine Unmenge von Fragmenten, die in den Augen des Malers ein Gesamtbild verhindern; Mondrian verspürt die fehlende Synthese des kubistischen Raumes.
In 3 ist es die Vase, die im Zentrum des Bildes ein Gefühl von Einheit vermittelt. In 4 ist es die stilisierte Baumkrone oben in der Mitte.
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In 5 ist es noch die Form des Gegenstandes, eine weibliche Figur, die den Raum zusammenhält. In 6 ist es die Silhouette einer Landschaft. In 7 scheint sich die ganze Komposition wieder in ausgeprägter horizontaler Prävalenz auszudrücken, wie in den Dünen vom 1909-10. Im mittleren unteren Teil von 8 in den naturalistischen Versionen der Ort des Stammes – sehen wir ein angedeutetes kleines Oval.
In 9 sehen wir eine angedeutete ovale Form, die die ganze Komposition einschließen zu wollen scheint. In Kompositionen wie 10 und 11 scheint Mondrian in einer Schwierigkeit zu sein. |
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Die Unentschlossenheit scheint sich auch in der Wahl des Bildformats zu zeigen: Alle naturalistischen Baumbilder sind in einem rechteckigen horizontalen Format.
Das gilt auch für die ersten kubistischen Baumversionen, doch gehen die danach folgenden Bilder zunehmend in vertikale Formate über.
In diesen Werken, die alle einen oder mehrere Bäume zum Motiv haben, geht das Bildformat von der Horizontalen zur Vertikalen über. So wie Mondrian mit den Architekturen die unendliche horizontale Ausdehnung der Dünen wieder einholen zu wollen schien, so scheint er jetzt mit einem vorwiegend vertikalen Baum den sich in der kubistischen Analyse auflösenden Raum verdichten und zusammenhalten zu wollen.
Im unteren Teil vom 1 sehen wir erneut eine absolute Vertikale (wie die Gebäude), die nach oben hin zu einer horizontalen Ausdehnung neigt. Ähnliches, aber im umgekehrten Sinne, beobachten wir in 2, dessen Motiv das Meer bildet. Dort entfaltet sich die Komposition nach einer allgemein horizontalen Tendenz, die im oberen Teil des Bildes homogenere und konstantere Züge annimmt. Von unten zur Mitte hin betrachtet, erweckt das Bild den Eindruck, als würde die Basis dreieckförmig in einem zentralen Punkt zusammenlaufen, der durch ein kleines senkrechtes Segment markiert ist. Danach kehrt alles wieder in die Horizontale zurück. |
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Während sich in den anderen kubistischen Bildern Horizontale und Vertikale in einer Vielzahl kleiner entgegengesetzter Zeichen durchdringen, scheint der Maler in diesen zwei Werken (1 und 2) die Komposition in einer einzigen Richtung halten zu wollen.
In einem Fall nimmt die Vertikale im oberen Teil der Komposition eine leichte horizontale Ausdehnung auf, im anderen Fall drückt die Horizontale eine potentielle Vertikale aus, die sich nur insoweit manifestiert, als sie die Komposition in ihrer Gesamtheit nicht auseinander fallen lässt.
Der Raum entwickelt sich wechselweise in die horizontale und vertikale Richtung und scheint zum Aufbautypus der Dünen und Architekturen zurückkehren zu wollen. Im Bemühen, dem fragmentierten kubistischen Raum eine gewisse Synthese und Einheit zu verleihen, scheint Mondrian für einen Moment zu einer absoluten Prävalenz der einen oder anderen Richtung zurückzukehren.
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1: Eine Zeichnung, die Seuphor auf 1912-13 datiert, die aber im kommentierten Katalog von Joosten nicht enthalten ist und die ich deswegen nur unter Vorbehalt einbeziehe. Die Zeichnung reproduziert das Schema des naturalistischen Baumes mit dem Stamm als Basis, der sich nach oben hin horizontal ausdehnt. Diese Ausdehnung ist durch ein Oval eingefasst, das zum ersten Mal derart explizit erscheint.
Bereits 1906 hatte der Maler, wie schon gesehen, in Landschaften und in Dünen eine ovale Kontur angedeutet.
In einer zweiten Bleistiftzeichnung von 1912-13 (2) benützt Mondrian ausdrücklich ein Oval. Die Zeichnung ist eine Vorstudie zu einem Werk von 1913 (3), in dem die Komposition zum ersten Mal klar und deutlich von einem Oval umschrieben erscheint. Das Oval scheint den kubistischen Kompositionen Synthese und Einheit verleihen zu können. Auch Braque und Picasso machen in einigen Bildern des analytischen Kubismus vom Oval Gebrauch.
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In fast allen Bildern von 1913, 1914 und 1915 wird Mondrian das Oval benutzen; auf seiner Suche nach einer Synthese behilft sich jedoch der Maler nicht ausschließlich mit dem Oval. In dieser Phase schränkt er die Farbpalette ein, um die Komposition mindestens auf der Ebene der Farbe mehr zusammenzuhalten. Tatsächlich beobachten wir eine Abschwächung der für die früheren Werke kennzeichnenden starken Farbkontraste und 1913 eine Reduktion der Farbpalette aus leuchtendem Gelb, Magenta, Blau und Grün auf verschiedene Ocker-, Braun- und Grau-Töne, wie in 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12.
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In 5, 6, 7, 8, 11, 13, 14 erscheint das Ovale nur schwach, kaum angedeutet; in 15, 16, 17, 20, 21 nimmt es hingegen klarere und entschiedenere Umrisse an.
In einigen Fällen fehlt das Oval vollkommen(18, 19) verschwindet es gänzlich. Man könnte meinen, dass der Maler das Oval nach seiner Einführung nun in diskreterer Form, ja bis zur Aufhebung ausdrücken wolle.
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In der Absicht, dem kubistischen Raum eine größere Synthese und Einheit zu verleihen, greift Mondrian auf ein Oval zurück, reduziert die Farbpalette und arbeitet zugleich an der komplexen Textur der Zeichen, die er zusammenzufügen sucht.
In 7, 8, und 9 wechseln sich krummlinige mit geradlinigen Zeichen ab. Während letztere den Raum öffnen zu wollen scheinen, geben die krummlinigen eher den Eindruck, ihn schließen zu wollen. In den krummlinigen Zeichen können wir Fragmente des Ovals sehen. Es scheint, als habe sich das Oval mit der Vielfalt der Zeichen durchdrungen.
Auch in den ersten kubistischen Bildern (1 und 2) deuten Zeichen im mittleren Teil der Komposition eine Zusammenballung des Raumes in runder Form an. Ein Raum, der sich verdichten und von innen heraus zusammenhalten will. |
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Sicherlich trägt das Oval dazu bei, der Komposition insgesamt ein Gefühl von Einheit zu geben, doch scheint es an der Vielfalt der Zeichen, deren Synthese es doch sein will, nicht teilzuhaben. Das Oval erscheint allzu absolut und allzu abgesetzt von der Vielfalt der Zeichen in seinem Inneren; es beschwört Einheit, aber nicht gerade jene, die der Maler im Bild realisiert sehen möchte. Mondrian sucht ja eine Einheit, die aus dem Innern der Komposition hervorgeht:
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wie in 3, wo die Vertikalen der Stämme von innen heraus in der oberen Mitte der Komposition zusammenlaufen; wie in 4 mit jenem genauen Tellerrund in der Mitte als idealem Muster für die ungenauen Rundungen der Äpfel; wie in 5, wo die Vertikale der Stämme und die Horizontale des Bodens eine Synthesis in der runden Form der Sonne rechts finden; aber vor allem wie im naturalistischen Baum, wo der Stamm die Vielfalt der Äste vereint. Aus dem (vertikalen) Stamm entsteht die ganze Vielfalt der Äste (horizontale) und umgekehrt kehrt die Vielfalt der Äste in die symbolische Einheit des Stammes zurück. Der Raum ist einheitlich, aber von innen heraus.
Im neuen kubistischen Raum versucht Mondrian eine Weise zu finden, um eine Einheit auszudrücken, die aus dem Inneren der Komposition heraus erwächst und nicht wie das Oval von außen her aufgesetzt wird.
In existentielle Kategorien übersetzt, wird uns bewusst, dass die Idee der Einheit, Herzensanliegen des holländischen Malers, etwas Alltägliches ist, das vom menschlichen Subjekt in seinem Verhältnis zur umliegenden Realität abhängt. Für Mondrian ist Einheit nicht absolut, a priori oder außerhalb der Welt.
Wir haben im vorhergehenden Kapitel gesehen, dass sich der virtuell unendliche Raum, der mit den Dünen zum Ausdruck gelangt, im durch und durch vertikalen und endlichen Raum der Gebäude konzentriert, während der Stamm des naturalistischen Baumes zum plastischen Symbol des Verhältnisses zwischen unendlichem und endlichem Raum wird; eine visuelle Metapher des einheitsstiftenden Bewusstseins im Angesicht realer Vielfalt.
Die Fragen der Synthese und Einheit stellen sich dem Bewusstsein im Angesicht der Unendlichkeit der Natur, doch können der Mensch und sein Bewusstsein nur aus dem Inneren der natürlichen Welt heraus tätig werden; jede äußere Position wäre metaphysisch. Eben dies gilt für die einheitliche Synthese des Ovals, weswegen Mondrian mit ihr nicht zufrieden sein konnte.
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So erscheint das Oval (1), nimmt sich dann diskreter zurück, als wolle es sich mit dem vielfältigen Raum durchdringen (2), verschwindet fast gänzlich (3), um wieder in abgeschwächter (4) und dann erneut in entschiedener Form zu erscheinen (5).
In einigen Fällen weist das Oval eine klare schwarze Kontur auf (5), die jedoch im Vergleich zu 1 nach oben und unten offen bleibt.
In anderen Werken hingegen (3 und 4) verblassen die Zeichen zu den Rändern des Bildes hin und lassen eine leichte Andeutung von ovaler Form erkennen, ohne dass eine wirkliche Kontur sichtbar wäre. Mit dezenteren Farben scheint das Oval nachzulassen (2, 3 und 4); mit kräftigeren Farben hingegen, die die Kontraste und damit die Vielfalt des Raumes verstärken, kehrt es deutlicher zurück (5). Form und Farbe hängen zusammen; wenn sich die Farbvariationen reduzieren, erscheint alles unter einem "gleichen Licht" und das Auge kann zwischen den Teilen einen größeren Zusammenhang erblicken; in diesem Fall kann sich das Oval daher abschwächen. Wird der Kontrast zwischen den Teilen hingegen durch ausgeprägtere Farben verstärkt, werden sie von dem Oval wieder umschlossen, wie zur Erinnerung, dass diese ganze Vielfalt doch immer eine Einheit darstellt. Einmal erscheint das Oval von außen aufgesetzt, um die in ihm liegende Vielfalt einzuschließen (1 und 5), dann wieder scheint es aus eben diesem inneren Raum selbst zu entspringen, der an den Rändern in eine ovale Form ausläuft. Damit will der Maler m.E. zeigen, dass die Einheit aus dem Inneren der Komposition entspringen will (2, 3 und 4).
In den Bildern, in denen das Oval markanter hervortritt, beobachten wir, dass sich die Farbskala in der Zwischenzeit wieder um ein leuchtendes und konstrastreiches Rosa, Ocker und Blau erweitert hat, Farben, die der Künstler weggelassen hatte, um den kubistischen Raum nicht noch weiter zu fragmentieren. Auf die "einfarbige" Phase folgt eine Phase, in der die Flächen sich in zurückhaltender Weise färben (3 and 4) oder auf eine markantere Weise (5). Mondrian übt sich in einem schwierigen Balanceakt zwischen Form und Farbe. In dieser Phase konzentriert sich Mondrian auf die Struktur, ohne die Farbe allzu sehr opfern zu wollen.
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Die heterogene Vielfalt der Zeichen, die 1913-1914 noch krumm, schräg, horizontal und vertikal sind (1 und 2), geht zunehmend in eine homogenere Variation von senkrecht aufeinander stehenden Beziehungen über (3 und 4). Dadurch gewinnt die formale Struktur der Kompositionen eine größere Klarheit.
Die veränderliche Erscheinung der Welt auf eine Vielfalt orthogonaler Zeichen zu reduzieren, ist sicherlich eine willkürliche Handlung des Künstlers; eine Handlung jedoch, die es ihm erlaubt, die größtmögliche Vielfalt auf die Leinwand zu bringen (jedes Zeichen unterscheidet sich vom anderen je nach der einen oder anderen vorwiegenden Richtung) und zur gleichen Zeit etwas Beständiges aufrechtzuerhalten (das orthogonale Verhältnis).
Der Raum vervielfacht sich in tausend verschiedenen Formen und evoziert die ganze Vielfalt der natürlichen Welt, doch liegt der ganzen Dynamik und vielfältigen Erscheinung ein gemeinsamer Nenner (das orthogonale Verhältnis) zugrunde und das tut der menschliche Seele gut. Größte Verschiedenheit durch Variation ein und desselben auszudrücken, bedeutet, das Eine in der Vielfalt wiederzufinden.
Man denke an jene Werke von 1909-10 – Mühlen, Bäume, Dünen -, in denen sich eine punktförmige Struktur beobachten lässt, die schon einen gemeinsamen Nenner zu beschwören scheint.
Der kubistische Raum des Niederländers schlägt eine Brücke zwischen dem unendlichen Universum und dem einheitsstiftenden Bewusstsein.
Wie bereits gesagt, ist der kubistische Raum für Mondrian nicht so sehr gegenseitige Durchdringung sich bewegender Objekte (wie für andere kubistische und futuristische Maler), sondern Darstellung einer inneren gemeinsamen Struktur der Dinge. Das Bewusstsein öffnet sich der unermesslichen Vielfalt der Welt und fasst diese zugleich in einer einheitlichen Synthese zusammen. Sich der Welt öffnen ohne sich zu verlieren – etwas, das wir in unserem alltäglichen Leben ruhig öfters tun könnten!
Mit zunehmender Reduktion der Pluralität der Zeichen auf eine Variation des orthogonalen Verhältnisses erscheint jeder Punkt im Raum anders, ist aber Teil derselben inneren Natur, so wie in der Natur jeder Organismus anders erscheint, auch wenn er aus den selben Grundstoffen besteht.
Im Zeitalter der Photographie richtet sich der Blick des Malers nicht mehr auf die zufällige Form des Gegebenen, sondern auf das Ganze der Dinge und sucht auf der visuellen Ebene nach einem gemeinsamen Nenner. Dazu bedarf es eines Stützpunktes; um das Werden in den Blick zu bekommen, braucht man einen festen Punkt; für Cézanne waren es die stereotypen Kegel, Kugeln und Zylinder; für Mondrian wird es das orthogonale Verhältnis.
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Die zwei Richtungen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Dünen und Gebäuden oder Stamm und Ästen ergeben, haben sich durchdrungen und bringen eine Menge kleiner Zeichen hervor, die sämtlich wie quasi orthogonale, lineare Striche erscheinen. Einige sind etwas länger und wirken mehr im Sinne räumlicher Kontinuität. Sie fallen mit den mittleren Achsen des Bildes zusammen, vor allem mit der horizontalen. Wie schon in Tableau II gesehen, hat man auch in Composition II (1) den Eindruck, die Spur zweier senkrecht aufeinander stehenden Mittelachsen, d.h. der Grundstruktur des natürlichen Baumes, zu sehen.
In einer ständigen Abwechslung jeweiliger Grundrichtungen kreuzen sich die linearen Striche, verbinden sich untereinander und trennen sich wieder. Alles ist anders und kann doch auf ein und dieselbe innere Realität zurückgeführt werden, die nur immer wieder anders erscheint.
Die Kreuzung der linearen Striche erzeugt Felder oder miteinander verknüpfte Flächen, die sich voneinander durch leichte Farbvariationen absetzen. Die Farbmaterie dieser Bilder ist ausgesucht.
Einige dieser Flächen präsentieren in ihrem Inneren ein Zeichen, das aus einem horizontalen und vertikalen Strich besteht; man könnte an eine gegenseitige Durchdringung von Gebäude und Düne oder an die Grundstruktur des Baumes denken. Diese Zeichen erscheinen an verschiedenen Punkten der Komposition und nehmen immer neue Formen an: Hier überwiegt die Horizontale; hier halten sich die beiden entgegengesetzten Richtungen die Waage; hier kommt es zu einer größeren gegenseitigen Durchdringung der zwei Richtungen, nur dass die Horizontale nach links entweicht und hier sehen wir eine analoge Situation, nur dass die Horizontale sich nach links ausdehnt; hier sehen wir eine weitere mögliche Kombination der Gegensätze.
Während alle anderen Zeichen eng miteinander verknüpft sind und rastlos ineinander übergehen (und sich dadurch ungreifbar machen), scheinen sich die in den Flächen enthaltenen Zeichen in einem inneren Raum zu isolieren, um etwas Beständigeres auszudrücken. Das Gleiche gilt für 2, 3 und 4. |
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Eines dieser Zeichen erscheint in Composition II (1), leicht nach oben versetzt und innerhalb einer rechteckigen Fläche, in der Mitte der Komposition.
Im Vergleich zu den anderen rechteckigen Feldern, finden in diesem zentralen Rechteck die gegensätzlichen Richtungen zu einem stabileren Gleichgewicht. Anders als bei den anderen Zeichen, erscheinen hier die Horizontale und Vertikale gut ausgewogen, sei es im Verhältnis untereinander, sei es im Verhältnis zur ganzen Komposition. Das zentrale Rechteck scheint von denselben Proportionen wie die des Bildes zu sein.
Wie schon gesagt, lässt sich in diesem Bild noch die schwache Spur zweier mittlerer Achsen erkennen, die die ganze Komposition durchziehen.
Zwischen dem Bild und diesem Rechteck stellt sich also, zentral platziert, eine Beziehung von analogen Proportionen her.
Das zentrale Rechteck präsentiert sich als eine Art Vorbild des vollkommenen Gleichgewichts, während alle anderen umliegenden Zeichen Situationen evozieren, die sich jener idealen Situation mehr oder weniger annähern und darin das Leben in seinem ganzen Werden ausdrücken. Dieses Rechteck scheint in sich die zwei mittleren Achsen zu konzentrieren und sich als eine ideale einheitliche Synthese des vielfältigen Raumes zu setzen.
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Man denke an das Stillleben von 1901 (5), in dessen Mitte ein vollkommener Kreis (der Tellerboden) zu sehen ist, umgeben von mehreren unvollkommenen Kreisen (Äpfel). Aus einer Distanz von zwölf Jahren und in ganz anderer Form, sagen beide Bilder doch das Gleiche aus: Die physische Realität vervielfältigt ihre Erscheinungen, das Bewusstsein dagegen möchte die Vielfalt in die größere Synthesis eines idealen Modells zurückholen.
Beide Werke setzen die vielfältige Erscheinung der Welt (die Äpfel von 1901, die verschiedenen orthogonalen Zeichen von 1913) zu einer einheitlichen Synthese (der vollkommene Kreis des Tellers von 1901, das zentrale Rechteck mit der bestmöglichen Einheit der Gegensätze von 1913) in Beziehung.
Im naturalistischen oder figurativen Bild drückt sich das alles auf implizite Weise aus: durch das zufällige Aussehen einer bestimmten Vase, eines Tellers und einiger Äpfel. Gerade weil es von einem besonderen Aussehen der Gegenstände absieht, kann das kubistische Bild für eine Vielfalt von Gegenständen, Formen und Situationen stehen. Ohne bei den Einzelheiten zu verweilen, deckt das abstrakte Bild eine Realität auf, die mehreren Dingen gemeinsam ist; und diese wiederum offenbart ein breiteres Spektrum der Realität.
Um das Bild von 1913 in seiner ganzen Schönheit zu erfassen - einer Schönheit, die sich den Worten entzieht - , muss man es im Original sehen.
Composition II (1): Ist dieses innere Rechteck, aus dem sich das bestmögliche Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen ergibt, vielleicht ein Hinweis auf die einheitliche Synthese des kubistischen Raumes - jener inneren Einheit der Komposition, auf deren Suche sich der Maler befand, als er den Raum mit dem Oval äußerlich einfasste? Wir werden bald darauf zurückkommen, nachdem wir eine weitere Gruppe von Werken untersucht haben werden.
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Nehmen wir einen anderen interessanten Vergleich zwischen 1 und 6: Das naturalistische Bild zeigt einen horizontalen Streifen (den Himmel), der einen unendlichen Raum evoziert; ihm gegenüber steht die Silhouette der vertikalen Mühle. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint das Bild von 1905-1906 wie eine Voraussetzung der Dialektik zwischen Dünen und Architekturen, die Mondrian drei Jahre später entwickelt. Der kontinuierliche Himmelsstreifen entspricht in der Tat dem ausgedehnten Raum der Dünen, während die Mühle mit dem vertikal konzentrierten Raum der Architekturen zusammenfällt. Die zwei Flügel der Mühle geben abstrakt den Gegensatz zwischen dem weißen Himmelsstreifen und der Mühle selbst wieder – mit dem horizontal ausgerichteten Flügel als eine Konzentration des weißlichen Himmelsstreifens und dem vertikal ausgerichteten Flügel als eine Konzentration der Silhouette des vertikalen Gebäudes. Auch hier, wie in 1, sehen wir also einen Raum, der aus sich heraus seine eigene Synthese hervorbringt. Auch hier, wie in 1, stellt sich eine solche Synthese im Zentrum des Bildes her.
Der Vergleich der zwei Bilder könnte vermuten lassen, das abstrakte Bild sei eine Art Schematisierung des figurativen. Dem ist nicht so. Jeder Punkt der abstrakten Komposition pulsiert vor Energie, und alles erscheint miteinander verknüpft: wie wenn wir eine natürliche Landschaft betrachten, in der jeder Grüntupfer mit einem nächsten zusammenfließt, in einer Abfolge von Hell und Dunkel, von markanten Strichen und diffuseren Linien. Vor allem im Original betrachtet, hat die Geometrie des abstrakten Bildes in Wahrheit sehr wenig Schematisches an sich.
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Wie seit einigen Jahren gewohnt, begibt sich Mondrian im Sommer 1914 nach Holland, um die Familie zu besuchen. Während seines Aufenthaltes wird er vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht. Da er nicht nach Paris zurückkehren kann, richtet er sich vorübergehend bei Freunden ein. In Domburg, wo er wahrscheinlich nicht über Pinsel, Farbe und Leinwand verfügt, die er im Pariser Atelier zurückgelassen hat, beginnt Mondrian eine Reihe von Zeichnungen, deren Motive wieder die Fassade einer Kirche und das Meer bilden, d.h. jene Themen, die der Künstler auf naturalistische und ‚expressionistische’ Weise in den vorhergehenden Jahren behandelt hatte und an denen er wieder mitten in der kubistischen Phase arbeitet.
Die Zeichnungen der Kirchenfassade zeigen eine vertikale Ausrichtung, während die des Meeres sich horizontal orientieren.
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In den Zeichnungen, die sich an der Kirchenfassade inspirieren, beobachten wir die typische Struktur der kubistischen Kompositionen mit horizontalen und vertikalen linearen Zeichen. In einigen Zeichnungen umfasst ein Oval das Ganze. Manchmal (1 und 2) ist noch ein expliziter Gegenstandsbezug erkennbar – siehe die zwei Fenster, die in der Mitte oben erscheinen oder ein Portal im unteren Teil oder ein Kreuz über dem Portal (1). Wo in 1 und 2 die zwei Fenster sind, findet sich in 3 und 4 eine quadratische Proportion; innerhalb ihrer zeigt sich mal ein vertikales (3), mal ein horizontalesSegment (4).
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Die Zeichnungen mit dem Meeresmotiv unterteilen sich in jene, die nur das Meer darstellen (1, 2, 3, 4) und jene, die auch einen Pier zum Motiv haben; es ist der Pier in Schweningen, der vom Strand ins Meer hinaus führt (5, 6, 7, 8; letztere Zeichnungen heißen daher auch Pier und Ozean. Die horizontalen Linien überwiegen in den Zeichnungen, die das Meer als Motiv haben. In jenen des Piers und des Ozeans kommt die Vertikale deutlicher zum Zuge.
Wahrscheinlich hat der Künstler in der Struktur des Piers ein solides Element erblickt, das Symbol einer größeren Beständigkeit, das sich mit dem dynamischen Fließen des Meeres durchdringt. Wie die Gebäude, die die Ausdehnung der Dünen eindämmen und ausgleichen, scheint auch hier die Vertikale (Pier) etwas Beständigeres ausdrücken zu wollen, während die Horizontale (Meer) Veränderung verkündigt.
Wie im Fall der Dünen, der Türme und des Baumes muss Mondrian wegen bestimmter räumlicher Charakteristika vom Motiv des Piers und des Ozeans angezogen gewesen sein. Obwohl 1914 der besondere und zufällige Aspekt einer bestimmten Landschaft eine immer weniger wichtige Rolle spielt, muss der äußere Raum in diesem Fall ein tiefes Echo im Innern ausgelöst haben. Wie beim Baummotiv richtet sich der Blick des Künstlers spontan und nicht zufällig auf einen Gegenstand, der eine innere Beziehung zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen verkörpert. |
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Die Fotografie zeigt eine Landschaft, die derjenigen ähnlich ist, die der Maler als Modell genommen haben muss. |
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Auch in der Motivserie Pier und Ozean, wie schon in der Stamm-Ast-Struktur des Baumes, steigt hebt die Vertikale unten an und durchdringt sich im Aufsteigen mit der horizontalen Ausrichtung des Meeres. Im Vergleich zum Baum jedoch ist beim kubistischen Motiv des sich ins Meer erstreckenden Piers die Interaktion zwischen dem einheitlichen und beständigen Element(Pier) und dem veränderlichen und vielfältigem Element (Meer) dynamischer als die zwischen Stamm und Äste, die sich beziehungslos gegenüber stehen.
In den Zeichnungen, die sich an Pier und Ozean inspirieren (1, 2, 3, 4) macht sich eine allgemeine Symmetrie im Aufbau der Komposition bemerkbar. Um die vom Pier evozierte zentrale Achse (als symbolische Projektion des Beobachters) herum, nimmt der veränderliche Raum des Meeres eine relativ geordnetere und beständigere Form an.
Die exakte chronologische Abfolge jener Zeichnungen ist mir nicht bekannt und, offen gestanden, lege ich ihr auch keine allzu große Bedeutung bei. Stellt man einige von ihnen in eine gewisse Ordnung auf, so lassen sich interessante Zusammenhänge erkennen.
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Betrachten wir 1, 2, 3, 4, 5, 6 als eine einzige Sequenz:
1: Es handelt sich um eine Meer-Zeichnung von 1914, die den Raum der Dünen, dem sich der Künstler vier Jahre davor gewidmet hatte, wieder heraufruft.
Die Linie des Horizonts ist von einem schüchternen Oval eingeschlossen. Wie Brennpunkte einer Ellipse markieren im mittleren zwei Punkte ein Segment, das in Bezug zur ununterbrochenen Horizontlinie leicht nach unten versetzt erscheint. Das Segment vermittelt innerhalb der unendlichen horizontalen Ausdehnung den Eindruck einer gewissen temporären Beständigkeit; so als ob sich die Horizontlinie, die ununterbrochen nach rechts und nach links weiterläuft, für einen Augenblick im Inneren der Komposition konzentrieren und aufhalten würde. Man denke an frühere Kompositionen.
2: In dieser Meer-Zeichnung sieht man vorwiegend horizontale und krummlinige Richtungen mit manchen leichten und isolierten vertikalen Akzenten. Auch hier umfasst ein Oval, das leicht über die Ränder hinaus greift, das Ganze. Im mittleren Teil bemerken wir zwei entgegengesetzte, krummlinige Zeichen, die aus jenem zentralen Segment der vorhergehenden Zeichnung hervorzugehen scheinen. Diese Zeichen scheinen ein kleines Oval innerhalb des alles einschließenden Ovals andeuten zu wollen. Das erinnert an die Verdichtung des Raumes zum Zentrum hin, die wir schon in einigen Kompositionen von 1912 beobachtet haben.
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3 und 4: In diesen zwei Zeichnungen nimmt der in das Meer hinausragende Pier in vertikaler Richtung Gestalt an.
Als Sequenz genommen, zeigen die vier Kompositionen (3, 4, 5, 6) eine Vertikale, die sich im Aufsteigen mit der Horizontale des Meeres durchdringt. Von 4 zu 6 nimmt die Zeichenmenge, d.h. der Grad an Vielfalt des Raumes, fortlaufend zu; erst in dieser letzten Komposition drücken sich die Zeichen nur und ausschließlich in rechtwinkligen Verhältnissen aus.
Das kleine angedeutete Oval in 2 verwandelt sich im Zentrum von 3 in eine leicht viereckige Zone, die sich nach oben hin verdichtet (4), um zu einem Quadrat zu werden (5), das schließlich in 6 ein Äquivalenzzeichen der zwei gegensätzlichen Richtungen einschließt.
Pier and Ocean 5, 1915, |
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Jedes Zeichen drückt etwas anderes aus und jeden Moment ändert sich etwas. Obwohl die Komposition einem allgemeinen symmetrischen Aufbau verpflichtet ist, drückt sie eine Realität im Werden aus – die Realität der kubistischen Maler.
In diesem Quadrat, in dem die verschiedensten, ja gegensätzlichen Dinge äquivalent sind und bei aller Verschiedenheit einen selben Wert annehmen, hebt sich die horizontal-vertikale Dualität, die den ganzen vielfältigen Raum erzeugt, auf. An diesem Punkt kann das Auge verweilen und in größerer Ruhe den kontinuierlichen Richtungswechsel im räumlichen Umfeld betrachten. Hier verwandelt sich für einen Augenblick das Werden in Sein, wird die Vielfalt eins.
Das Gleichheitszeichen zwischen den Gegensätzen entsteht im Inneren eines Quadrates und evoziert so einen inneren Raum. Das Quadrat steht für den Bewusstseinsraum, in dem sich der wechselhafte äußere Raum für einen Augenblick synthetisch zusammenfasst.
In der Tat sehen wir bei der Betrachtung des Bildes andere Zonen der Komposition, die Quadrate andeuten, die jedoch nicht an das Gleichgewicht des zentralen Quadrats herankommen. Anders als dem zentralen Quadrat, gelingt es ihnen nicht, den dynamischen äußeren Raum festzuhalten, ihn sich anzueignen und in ein konstanteres inneres Gleichgewicht zu verwandeln. Die unvollständigen Versuche zur Verinnerlichung der äußeren Realität drücken jene Momente des Lebens aus, in denen uns etwas entgleitet und wir uns nicht den Griff bekommen. Das zentrale Quadrat hingegen hält einen der seltenen Augenblicke fest, in denen wir begreifen (internalisieren), dass alles miteinander verknüpft ist und dass jedes Ding von seinem Gegensatz abhängt.
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Die Einheit, die sich in der ersten kubistischen Phase in einem externen Oval niederschlug (2), verwandelt sich in ein inneres Oval (3) und schließlich in ein Quadrat, das Synthese und Einheit ausdrückt (4). Eine externe und absolute Einheit verwandelt sich in eine innere und relative Einheit, die jetzt ein Teil des vielfältigen Raumes ist, aus dem sie hervorgeht.
Mondrian schrieb: "Die Kompakte gebogene Linie, die keine plastische Beziehung ausdrückt, wurde durch gerade Linien ersetzt, die die reinste Form der Beziehung ausdruckt."
Betrachtet man Pier and Ocean 5 im Original, bemerkt man Streichungen und ständige Korrekturen zwischen den Teilen. Dies stört nicht nur nicht, sondern trägt zur dynamischen Wirkung des Ganzen bei. (klicken auf der Abbildung um sie zu vergrössern) Wenn der Künstler mit der symmetrischen Anlage der Zeichen Ordnung und Beständigkeit zu erzeugen versucht, so neigt er auch dazu, eben diese Symmetrie durch eine fließende weiße Masse wiederum zu stören. Die weiße Masse scheint die fragmentarische Diskontinuität der Zeichen verbinden zu wollen und führt ein Element ein, das weniger als Linie als vielmehr als Fläche erscheint, d.h. mehr als Malerei. In der Farbe Weiß sehe ich jene Farbe angelegt, die – nach einer fast nur aus Zeichnungen bestehenden Phase - im darauffolgenden Jahr in den Bildern von Mondrian zurückkehren wird. |
Es wird nun deutlich, welche ‚Landschaft’ Mondrian evozieren will. Zunächst geht er von einer unmittelbaren Realität - wie der einer Kirchenfassade, des Meers oder des bestirnten Himmels - aus; ohne sich jedoch bei ihrem besonderen und kontingenten Aspekt aufzuhalten, führt er sie in eine ideale Repräsentation der Landschaft überhaupt über. Was eigentlich ist Landschaft? Jede Landschaft ist das Ergebnis einer Wechselwirkung von Subjekt und Objekt.
1915 symbolisiert ein Quadrat das Bewusstsein, das sich mit dem veränderlichen Aussehen der natürlichen Realität durchdringt und auseinandersetzt.
Hielt damals der Stamm die vielförmige Ausdehnung der Äste metaphorisch zusammen, so ist es jetzt die Vertikale, die die sich aus der Wechselwirkung zwischen zwei gegensätzlichen Richtungen ergebende Vielfalt der Welt in einer quadratischen Proportion konzentriert und vereinheitlicht. Die einheitsstiftende Funktion des Baumstammes wird jetzt durch eine Einheit des Raumes in sich selbst ersetzt. Das Quadrat ist eine Metapher des einheitsstiftenden Bewusstseins. (siehe unten stehende Diagramm)
Gleichwohl versteht sich, dass das Bewusstsein nur partielle und provisorische Synthesen leisten kann; offensichtlich kann es nicht alle möglichen Beziehungen zur äußeren Welt erschöpfen. Das menschliche Bewusstsein kann einfach nicht die Totalität der Welt in sich enthalten und wird niemals ein für allemal alle Realitäten in ihrer Gesamtheit umfassen (Raum des Ovals). Jede gedankliche Synthesis ist notwendig partiell und temporär; daher muss sie sich wieder dem vielförmigen und veränderlichen Aspekt der physischen Realität öffnen. Jeder vernünftige Mensch, der eine Erfahrung macht, stellt damit seine Gewissheiten auf die Probe. So machen es auch seit Jahrhunderten die Philosophie, die Künste und vor allem die experimentellen Wissenschaften.
Oberhalb des Quadrats, das wir als einheitliche Synthese der ganzen Komposition ausgemacht haben, lässt sich ein zweites Quadrat erkennen.
Im Inneren des zweiten Quadrats sehen wir ein vertikales Segment, das durch zwei horizontale Segmente getrennt ist, die über den Umfang der quadratischen Proportion nach rechts und links hinausragen; die zwei kleinen horizontalen Segmente bilden zwei Kreuzzeichen mit den zwei vertikalen Seiten des Quadrats.
Diese zwei Zeichen sagen uns, dass sich das Eine wieder der Dualität öffnet. Die Einheit, die sich in der Form der Äquivalenz der Gegensätze für einen Augenblick im unteren Quadrat herstellt, fällt wieder in eine Dualität auseinander, die dann in eine Vielfalt von Situationen zurückzufließen, in denen jeweils die eine oder andere Richtung überwiegt. Die einheitliche Synthese des ersten Quadrats öffnet sich erneut dem vielfältigen Raum des zweiten Quadrats.
Das sich in Pier and Ocean 5 bildende Quadrat ist also für Mondrian ein plastisches Symbol des vielfältigen natürlichen Raumes (die Horizontale), der im Bewusstseinsraum für einen Augenblick in Maß und Harmonie übergeht, um sich dann wieder der Natur zu öffnen.
Die Äquivalenz in der quadratischen Proportion beschwört die Möglichkeit eines Gleichgewichts und einer Synthese zwischen gegensätzlichen Entitäten, d.h. zwischen Geist und Natur, was sowohl für die Beziehung zwischen Subjekt und Außenwelt als auch für die des Subjektes mit sich selbst, sprich zwischen inneren gegensätzlichen Impulsen, gilt; zum Beispiel zwischen der Unbändigkeit des Instinktlebens und dessen Bändigung und Lenkung durch Verstand und Geist.
Die räumliche Entwicklung in Pier and Ocean 5 sagt uns, dass das Gleichgewicht erreicht werden kann, aber dass es sich nur um ein dynamisches Gleichgewicht handelt, das, einmal erreicht, nicht unbedingt lange anhält: Die Vertikale steigt auf, durchdringt sich mit dem Horizont und erzeugt eine einheitliche Synthese, die sich nach oben hin dem Horizont öffnet. Das Veränderliche wird konstant, um sich wieder zu verändern. Das Eine zeigt sich für einen Augenblick, um dann wieder vielfältig zu erscheinen.
1 ) Apples, Ginger Pot and Plate on a Ladge, 1901 |
2 ) The Red Tree (Evening), 1908-10 |
3 ) Composition II, 1913 |
Es handelt sich jetzt um eine dynamische und nicht mehr statische Einheit, wie noch der vollkommene Kreis eines Tellers (1), der Stamm des naturalistischen Baumes (2) oder das ziemlich verstopftes Rechteck im Zentrum von 3.
Die Einheit, die der Holländer ausdrücken will, ist eine provisorische Synthese, die von Mal zu Mal vom Subjekt in seiner wechselhaften Beziehung mit der Welt erzeugt wird, und nicht etwas endgültig zu erreichendes. Ein Gleichgewicht zwischen der vielfältigen Erscheinung der Natur und der Synthese des Bewusstseins zu finden, bedeutet für Mondrian nicht, feste und unveränderliche Punkte, dauerhafte und immer gültige Wahrheiten zu erreichen. Das Quadrat von Pier and Ocean 5 ist keine tendenziell statische und alles umfassende Einheit wie das Oval, sondern eine dynamische Einheit, die mit dem vielfältigen Raum verschränkt ist, aus dem heraus sie entsteht und in den sie im nächsten Augenblick wieder zurückgeht.
Mit diesen zwischen 1914 und 1915 in Holland anfertigten Zeichnungen scheint Mondrian die Arbeit von 1908 bis 1915 im gewissen Sinne zusammenzufassen; es ist, als fände die langjährige Praxis im Pariser Atelier durch die Berührung mit der niederländischen Natur, von der sie ihren Ausgang genommen hatte, plötzlich einen unerwarteten Abschluss.
Dies alles ist meines Erachtens spontan erfolgt, ohne dass der Maler sich dessen bewusst gewesen wäre. Wie ich glaube, handelt es sich bei den Landschaften, auf die sich der Künstler in dieser Phase noch explizit bezieht (Düne, Meer oder Pier und Ozean), in Wirklichkeit um Motive, der er schon seit der expressionistischen Zeit internalisiert hat und deren plastische Valenz ihm vor Augen schwebte. Im Rückgriff auf diese Motive 1915 schöpft wohl der Maler mehr aus sich selbst, als dass sich mit der realen Landschaft auseinandersetzt. Er kehrt zu diesen Motiven zurück, um unerledigte Knoten in den kubistischen Bildern aus Paris aufzulösen. Dadurch fasst er die Arbeit zwischen 1912 und 1914 zusammen.
Mitten in der kubistischen Phase, 1914, geht also der Holländer wieder von einem naturalistischen Raum aus (44.8) (wie die Dünen um 1910) und gelangt zu einem abstrakten Raum (Pier and Oceran 5), in welchem er nach Verlust der metaphorischen Einheit des naturalistischen Baumesstammes eine innere Einheit des kubistischen Raumes wiederfindet, die er in all seinen Kompositionen zwischen 1912 und 1914 gesucht hatte.
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1914, auf dem Höhepunkt seiner kubistischen Phase, geht Mondrian tatsächlich wieder von einem naturalistischen Raum (2) aus (wie er mit den Dünen um 1910 zum Ausdruck kommt) (1) und gelangt zu einem abstrakten Raum (3 und 4), in dem er, nachdem er die durch den Baumstamm evozierte metaphorische Einheit verloren hat, eine innere Einheit des kubistischen Raums wiederentdeckt, die er in allen zwischen 1912 und 1914 entstandenen Kompositionen gesucht hat.
Im Durchgang durch die vier Bilder setzt sich die äußere Einheit sichtbar in eine innere um - objektive Einheit (Oval) und subjektive Einheit (Quadrat) bestehen nebeneinander und von da ab basiert der ganze plastische Raum des Holländers auf dieser Idee der Einheit (Quadrat), subjektives Symbol einer vermutlich objektiven Einheit (Oval), die im Bild immer weniger sichtbar ist.
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1920 |
In der Tat zeigt die Sequenz wie das Oval über den Umfang der Bilder hinauswandert und einer quadratischen Proportion Platz macht.
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Hier muss betont werden, dass der eben aufgezeigte Prozess durchaus nicht so linear verlaufen ist wie es scheint. Während der ganzen Entwicklungsphase des kubistischen Raumes dürfte der Maler viele Unsicherheiten durchgemacht haben. Die Ergebnisse, zu denen Mondrain mit Pier and Ocean 5 (4) gelangt, sind nicht nur die Frucht dieser vier Bilder. Zwischen der Andeutung einer einheitlichen Synthese in 1 (1913) und ihrer vollkommenen Realisierung in 4 (1915) hat Mondrian an wenigstens 22 Werken gearbeitet. In einigen schimmern sporadische Ausdrucksversuche partialer Synthesen durch, wie z.B. in 2 und 3, in vielen anderen jedoch scheint sich der Maler darum nicht zu kümmern.
Man muss also annehmen, dass Mondrian quasi unbewusst zur Synthese von 1913 gelangt ist (1), wobei er dann neue mögliche Lösungen gesucht hat, die sich in einigen gemalten Werken von 1914 erahnen lassen (2 und 3), um dann erst 1915 (4) Früchte zu zeitigen. Der Leitfaden war im Inneren des Malers angelegt und wickelte sich wie vieles im Leben über einen langsamen und gewundenen Weg mit Fort- und Rückschritten ab. Mondrian ist seiner Intuition gefolgt und diese wurde durch ein "Projekt" inspiriert, das der Künstler selbst nicht in seinem ganzen reellen Ausmaß überblicken konnte, wie wir es heute tun können.
Die Ausarbeitung des kubistischen Raumes erstreckt sich über einen Zeitraum von ca. vier Jahren (1912-1915).
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Von 1893 bis 1915 hat sich die Malerei von Mondrian vollkommen verändert, oder besser gesagt, haben sich die plastischen Mittel geändert, durch die eine Sicht der Welt, die schon durch einige Werke der naturalistischen Phase hindurchschimmerte, klar gestaltet werden soll.
Nach Cézanne hatten Braque und Picasso zwischen 1907 und 1911 die Entwicklung des kubistischen Raumes stark vorangetrieben, wandten sich jedoch 1915, als der Holländer zu einer Synthese des Kubismus gelangte, wieder den Erscheinungsformen einzelner Gegenstände zu. Später wird Mondrian sagen, dass sie die Voraussetzungen ihrer eigenen Analysen nicht weiter verfolgt hätten. Tatsächlich werden Braque und Picasso vom sog. analytischen Kubismus zu dem übergehen, was synthetischer Kubismus genannt worden ist, ohne überhaupt jenen präzisen Augenblick herausgearbeitet und festgehalten zu haben, an dem die kubistische Realitätssicht anfängt, ihr eigenes Leben zu zu führen, ihr eigener Raum zu werden und sich in der einzigen und wahren Realität der Malerei zu verankern, die sich in zwei Dimensionen ausdrückt. An die Stelle eines illusionistischen Gebrauchs der Malfläche (der angeblichen dritten Dimension), der die statischen und zufälligen Erscheinungen der Welt imitiert, setzt Mondrian einen konkreten Gebrauch der zweidimensionalen Fläche, die sich selbst als mögliches Interpretationsmuster der Realität anbietet; einer Realität, die für den Holländer in einer dynamisch verschränkten äußeren und inneren Struktur besteht.
Die Werke von Braque und Picasso als synthetischen Kubismus zu bezeichnen, wie es die Kunstkritik tut, scheint mir unpassend. Meines Erachtens geht es hier nämlich nicht um eine Synthese, sondern um eine hastige Summierung von Elementen nicht gelöster Fragen auf der visuellen Ebene. Der sog. synthetische Kubismus war der plumpe Versuch, verschiedene Stücke der kubistischen Objektanalyse miteinander zu vermengen, ohne sie an ein gemeinsames Maß zu legen, das sie zusammenhalten würde und zwar nicht schon in der Erscheinungsweise der Objekte, sondern kraft ihrer inneren räumlichen Eigenschaften. Der synthetische Kubismus lässt also die grundsätzliche Frage der Dichotomie zwischen Objekten und Raum offen.
Dieser Widerspruch bringt bei Picasso eine besondere Form von Surrealismus hervor, die darin besteht, eine Synthese zwischen unterschiedlichen Gegenständen zu suchen, ohne sich von ihrer Erscheinungsform absetzen, d.h. einen wirklichen Abstraktionsprozess durchführen zu können. Eine derartige Alchemie kann offensichtlich nicht funktionieren und deswegen verformen sich die Gegenstände und nehmen einen surrealen Aspekt an. Den Surrealismus von Picasso kann man als eine Art von eingerosteten Kubismus bezeichnen. Damit soll Werken wie zum Beispiel Guernica, das ein Meisterwerke der Malerei bleibt, nichts genommen, sondern nur die Rolle des genialen Erfinders, die man Pablo Picasso in der Ausarbeitung des modernen plastischen Raumes zuspricht, zurechtgerückt werden. Wenn von Erfindern sprechen wollen, müssen wir uns an Cézanne und Mondrian halten.
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Kehren wir nun für einen Augenblick zu Pier and Ocean 5 zurück: Mensch und natürliche Welt sind nicht symmetrisch homologisierbar und werden es auch niemals sein (man denke nur an die ungeheuere, physische Disproportion zwischen den beiden Begriffen). Aber in bestimmten Situation können sie für das Bewusstsein eine gleiche Bedeutung annehmen und ein Gleichgewicht zwischen menschlichen und natürlichen Bedingungen erreichen. Und da der Mensch ein Teil der natürlichen Welt ist, geht es im Grunde um eine Wiederzusammenführung eines Teils der Natur (Mensch) mit dem Ganzen.
Heute spricht man von der Erde als einem einzigen Organismus, von der Komplexität, der zu rettenden Artenvielfalt. Nicht nur die Wissenschaft, auch die christliche Kirche macht sich zum Anwalt der ökologischen Frage. Wie ich schon bemerkt habe, ist die Ökologie ein konkretes Beispiel für jenen Versuch, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, zwischen Subjekt und Objekt wieder auszutarieren – was eben für den holländischen Maler die Beziehung zwischen der Vertikalen und Horizontalen bedeutet.
Mondrian stellt eine Beziehung zwischen zwei unendlichen Richtungen her, der Horizontalen (plastisches Symbol der Außenwelt) und der Vertikalen (plastisches Symbol der Innenwelt). Für das Bewusstsein geht es um zwei virtuell unendliche Räume, da unser Inneres nicht weniger komplex, dynamisch und vielseitig ist als die unendliche Vielfalt der Außenwelt. Denken wir nur daran, wie oft wir in unserem Alltag in Situationen der Dualität, des Konflikts und der Disproportion hineingeraten – Disproportionen etwa zwischen jenen Teilen von uns, die der Natur näher stehen und jenen, die uns als Mensch, sprich vernunftbegabtes Wesen charakterisieren. Konflikte zwischen emotionalen Impulsen und ethischen Prinzipien. Prävalenz der einen oder anderen Richtung: Manchmal sind es die Vernunft und die moralischen Regeln, die den Lebenselan unterdrücken und einschränken; manchmal ist es das Leben, das den gesunden Verstand und die Vernunft durcheinanderbringt. Wie hier sich durchlavieren? Disharmonie zwischen Körper und Geist; inneres Ungleichgewicht, das auf die Außenwelt projiziert wird und Reibungen und Konflikte hervorruft.
Wie seltsam und kostbar hingegen sind jene Momente, in denen wir die Bedingungen des einen und des anderen Teils von uns sehen und begreifen! In denen wir es schaffen, den Raum unseres Bewusstseins so zu erweitern, dass wir die ganze Diversität in uns als Einheit erfassen. Mit Wehmut werden wir unserer Grenzen gewahr und fühlen uns doch gleichzeitig kleiner und größer. Für einen Augenblick löst sich die Dualität auf, wir fühlen uns eins und draußen erscheint uns alles harmonisch, weil auch drinnen Harmonie herrscht. Jene Synthese zu betrachten, sich jenem überschwänglichen Augenblick hinzugeben, in dem wir mit dem Ganzen eins zu sein scheinen (die Synthese von Pier and Ocean 5), um uns dann wieder dem prosaischen Alltag mit seinen Trennungen und Zusammenstößen zuzuwenden (der Raum von Pier and Ocean 5 um das Quadrat). Im Herzen bleibt diese Idee der Einheit und des harmonischen Gleichgewichts; bleibt dieser Geschmack eines universalen Lebens, das sich nicht mehr im Einzelnen enthüllt, aber von dem unser Alltag, unsere flüchtigen Emotionen, unsere stete Suche nach unwahrscheinlichen Gleichgewichtszuständen ein Teil ist, wenn auch ein noch so kleiner, der wesentlich zum Ganzen beitragen kann.
Das Gleichheitszeichen von Pier and Ocean 5 ist mit dem Raum des Bewusstseins in einem jener seltenen und kostbaren Momente vergleichbar, in dem es mit sich selbst im Gleichgewicht befindet, während um uns herum Gesten, Worte, Situationen nach jenem Gleichgewicht verlangen, dessen erfolgreiche Einhaltung von uns abhängt. Die Beziehungen zwischen gegensätzlichen Werten muss dynamisch gesehen werden: während sich die Vertikale, Symbol des Geistigen, auf sich selbst konzentriert, möchte sich die Horizontale (Symbol des Natürlichen) wieder öffnen.
Im Grunde repräsentiert die Vertikale den "guten Wille"’, den Geist, der den Versuchungen der horizontalen Impulse nicht nachgibt. Den Impulsen widerstehen, die Instinkte beherrschen, aber zugleich zulassen, dass sich das Geistige mit dem Natürlichen misst, indem er sich den Veränderungen, die die äußere Welt und das Leben mit sich bringen, aussetzt. In der Tat bedeutet das Gleichheitszeichen zwischen den Gegensätzen, unserem naturnahen Teil denselben Wert beizumessen wie unserem typisch menschlichen; zu verstehen, dass in dynamischer Sicht das eine vom anderen abhängt. Eine Vertikale, die der Horizontalen nicht mehr nachgibt als nötig ist, sich ihr aber auch nicht bis zum Äußersten widersetzt, wie es gewisse moralische Doktrinen gerne hätten.
Der plastische Raum des holländischen Künstlers legt nahe, dass die Einheit des Seins kein moralisches Gesetz, sondern Methode ist: dynamische Äquivalenz der Gegensätze, die, statisch und starr gesehen, das Bewusstsein aufspalten und uns von uns selbst und der Welt abtrennen.
Der ästhetische Raum Mondrians enthält also auch eine moralische Botschaft: die Gegensätze in sich selbst auszugleichen, das Ungleichgewicht in sich selbst zu neutralisieren, noch bevor man an die anderen und an die ganze Welt (das Oval ist die ganze Welt...) denkt.
Immanuel Kant: Das moralische Gesetz in mir und der bestirnte Himmel über mir. Das moralische Gesetz ist also die Regel, die die Emotionen in Schach hält, d.h. die natürlichen Impulse und die geistige Kontrolle so ausbalanciert, wie es Mondrian mit den Gleichheitszeichen im Quadrat ausdrückt. Der bestirnte Himmel ist für den deutschen Philosophen die ganze Welt, die äußere Realität, all das, was mein inneres Gleichgewicht beeinflussen kann, d.h. in der Komposition des holländischen Malers der ganze Raum um das Quadrat herum.
Äquivalenz der Gegensätze – will sagen, keine scheinheilige Moral, aber auch keine bedingungslose Triebbefriedigung. Freiheit ist nicht die Abwesenheit von Regeln, wie einige meinen; Freiheit, sagt Kant, ist das Vermögen, sich selbst Regeln zu geben, d.h. frei zu sein, Regeln zu bestimmen, die gleichwohl notwendig sind; sowohl in den inneren Widersprüchen (individuelles Lebens), als auch im Verhältnis zu anderen (soziales Leben).
Im Zuge der formalen Bildinterpretation stoßen wir auf das Leben selbst, aber nicht das Leben in seiner einzelnen und zufälligen Erscheinung, sondern in seinem innersten und wahrhaftigsten Seinsgehalt. Dank der Begabung und intellektuellen Redlichkeit des holländischen Malers nimmt die Form an Gewicht zu und offenbart seine tiefste Sicht der Dinge. Mit Mondrian wird Form zum Inhalt; Ästhetik wird Ethik.