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1915 - 1920 oVOM KUBISMUS ZUM NEOPLASTIZISMUS

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Pier and Ocean 5, 1915

 

Composition 10 in Black and White, 1915, Oil on Canvas

1915 malt Mondrian eine neue Version von Pier und Ozean, die er Composition 10 in Black and White nennen wird.

Anders als die vorhergehenden Werke – gezeichnet auf Papier mit Kohle oder Grafit, unter gelegentlicher Hinzugabe von Guasch - , ist diese Version mit Öl auf Leinwand gemalt. Aus diesem Grund wollen einige Fachleute in diesem Gemälde eine endgültige Fassung nach mehreren Vorstudien erkennen.
Sicher ist dieses Werk schöner; Materie und Farbe kommen in größter Ehrlichkeit zum Ausdruck; ich sage bewusst Farbe, weil, obwohl in grau-schwarz gemalt, es sich hier um eine erlesene Abstufung von Grautönen handelt, die, wie in einigen chinesischen Bildern, leuchtender und ausdrucksstärker wirken als die Farbe im wörtlichen Sinne; im Original hat das Licht dieses Bildes eine wirklich magische Ausstrahlung.

Der Aufbau der Komposition ist ähnlich dem von Pier and Ocean 5, aber zeigt einige entscheidende Unterschiede:

Auch hier, wie in der vorhergehenden Fassung, ist der untere Teil durch vertikale Segmente markiert, die im Aufstieg auf die entgegengesetzte Richtung des Meeres stoßen; das zeigt sich am deutlichsten im mittleren Teil des Bildes, in dem die linearen horizontalen Segmente am ausgedehntesten sind und dadurch eine größere Kontinuität suggerieren. Auch hier erzeugt die Wechselwirkung zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen eine Vielzahl von Zeichen und auch hier drücken sich solche Zeichen nur über die orthogonale Opposition aus – ab jetzt ein Grundstein der neuen Sprache in nuce. Anders als in der vorhergehenden Fassung, ist das Oval wieder nur angedeutet und bleibt nach oben hin offen.
Das in Pier and Ocean 5 zu beobachtende Quadrat, Symbol der Äquivalenz der Gegensätze, ist hier aufgelöst. An seiner Stelle ist ein Zeichen der "quasi Äquivalenz" zu erkennen, das in seiner Anziehung durch den ständigen Austausch der Elemente nicht dazu kommt, sich zu vervollständigen.

Alle Zeichen neigen mal in die eine, mal in die andere Richtung; alles ist in ständiger Veränderung. Die Zeichen des unteren Bildteiles erscheinen ausgedehnter als die in der oberen Hälfte. Auch der symmetrische Aufbau in Pier and Ocean 5 mit seinen identischen linken und rechten Hälften hat sich aufgelöst, und das Ganze verläuft nun nach einem asymmetrischen Rhythmus. Jeder Punkt ist vollkommen anders. Trotzdem entsteht der Eindruck eines nüchternen und wohl ausgewogenen Raumes.

Mit diesem neuen Werk also setzt Mondrian alles wieder aufs Spiel: Er schafft die symmetrische Ordnung ab und sprengt die Synthese von Pier and Ocean 5 - das Quadrat im Zentrum – wieder auf. Im Grunde öffnet er sich wieder dem veränderlichen Aspekt, also der Natur. In Pier and Ocean 5 findet Mondrian zu einer Einheit, die sich hier wieder der Vielfalt öffnet – eine Idee, die, wie wir gesehen haben, bereits in der vorhergehenden Version vollkommen zum Ausdruck gekommen war. Daher kann ich der These, dass es hier um eine Endversion in der Serie Pier und Ozean geht, nicht zustimmen. Vielmehr glaube ich, dass sie nach der vorhergehenden Fassung, in der weit bedeutendere Fortschritte vollzogen worden waren, einen neuen Anfang darstellt. Dieses Bild von 1915 markiert einen Übergang zu neuen Werken.


 

2a

Composition in Line, 1916 (first state)

2b

Composition in Line, 1917 (second state), Oil on Canvas, cm. 108 x 108

1916 beginnt der Künstler, an zwei neuen Bildern zu arbeiten: Composition in Line (2a: erste Fassung und 2b: zweite Fassung) und Composition (3).

 

Beide weisen noch die formale Struktur der Pier und Ozean-Serie auf.
2b wird erst 1917 wieder aufgenommen und abgeschlossen, während 3 schon 1916 fertig ist. Gleichwohl glaube ich, dass 2b vor 3 anzusiedeln ist, auch wenn das Datum das Gegenteil anzeigt. Die Gründe für diese Interpretation werde in Bälde darlegen. Betrachten wir die beiden Bilder:

2b: Auch dieses Bild ist in Öl gemalt. Wie gesagt, bearbeitet Mondrian die Komposition in zwei Phasen: Ein erstes Stadium (2a) 1916 und ein zweites Stadium, das wir heute kennen, 1917.
Bei der Wiederaufnahme, die zum zweiten Stadium führt, nehmen die linearen Zeichen an Stärke zu und drücken sich in zwei leicht unterschiedlichen Schwarztönen aus, die nicht in den Reproduktionen, sondern nur im Original zu sehen sind. Wir haben es hier mit einem der vielen Bilder des holländischen Künstlers zu tun, die in den gängigen Farbreproduktionen verlieren. Das Werk muss im Original gesehen werden, um die Dunkelgrau- und Schwarztöne ganz auszukosten, die sich frisch und anmutig von den energiegesättigten – und nicht flachen, wie in den Fotografien – Weißtönen abheben.

Auch hier drückt sich die Vielfalt der Zeichen über eine Variation des rechtwinkligen Verhältnisses aus.
Eine gewisse Anzahl von Zeichen wird von sich kreuzenden horizontalen und vertikalen Striche gebildet. Wie in den vorhergehenden Kompositionen erscheint jedes Zeichen anders - je nach der Quantität der einen oder anderen Richtung, die sich mit einer anderen Quantität der entgegengesetzten Richtung kreuzt.
Andere Zeichen werden hingegen in einer einzigen: horizontalen oder vertikalen Richtung gebildet.
Einige nach Länge und Richtung identische Linien verlaufen parallel und angrenzend und bilden ein Paar. Hier erkennen wir ein Muster wieder, das schon in einigen Meeres-Zeichnungen von 1914-15 aufgetaucht war.

3

Composition, 1916, Oil on Canvas, cm. 75,1 x 119

 

In der Betrachtung der Zeichenmenge und ihrer Einmaligkeit stehen wir einem Raum gegenüber, in dem sich alles ändert; ein vielfältiger Raum, der durch den gemeinsamen Nenner der rechten Winkels und durch die ovale Anordnung des Ganzen zusammengehalten wird.

Unter den Zeichen, die sich nur nach einer einzigen Richtung ausdrücken, sind einige sehr kurze, die dank zunehmender Linienstärke wie kleine Flächen erscheinen (Diagramm 2b). Das geschieht hauptsächlich im mittleren oberen Teil der Komposition, jenem Teil, der in Pier and Ocean 5 die einheitliche Synthese des Quadrats zeigt. In diesem Bereich scheint sich die Opposition horizontal-vertikal bis zum Verschwinden abzuschwächen. Während die Äquivalenz von Gegensätzen in Pier and Ocean 5 durch zwei gleich lange lineare Markierungen innerhalb eines Quadrats ausgedrückt wurde, scheint sie sich hier in Form von kleinen, zum Quadrat hin tendierenden Flächen zu manifestieren. Eine Vielzahl möglicher Äquivalenzen wird in verschiedenen Bereichen der Komposition, vor allem aber im oberen Mittelteil, ausgedrückt. Wo in Pier and Ocean 5 Einheit gestiftet wurde, da zeigt sich in dieser Komposition ein synthetischerer Raum.

Die linearen Zeichen von Composition in Line (2b) scheinen darauf bedacht zu sein, zu Flächen zu werden, die tatsächlich in Composition (3) erscheinen.

 

 

   

2b

Diagram

 

Nach der Serie von Werken aus linearen Strichen in grafischer Art scheint jetzt die Malerei ihr Recht. In 3 sind blaue, rosa und ocker Farbflächen zu sehen, eingeschoben zwischen schwarzen Zeichen und wunderschönen Grautönen.
Blau, Rosa und Ocker sind die Farben, die Mondrian in verschiedenen Bildern der Pariser Zeit 1913-14 benutzt hatte.

Man denke an jene kubistischen Bilder mit dem Oval, in denen er leuchtendere Farben hätte einsetzen wollen, was aber nur zur Auflösung der Komposition führte. Man vergleiche zum Beispiel 3 (1916) mit Composition in Oval with Color Planes 1(1914). Jetzt, da die Form durch die „orthogonale Regel“ eine gewisse Ordnung bekommen hat, scheint die Farbe den Raum nicht übermäßig auflösen zu können.

 
 

Composition in Oval with Color Planes 1, 1914

3

 

3: Die Rechtecke aus schwarzen Zeichen werden von der Farbe manchmal betont, manchmal ausgedehnt. Das erzeugt einen angenehmen Rhythmus, in dem sich die schwarzen Linien mit der mal zurückhaltenden, mal überschießenden Entfaltung der Farbflächen abwechseln. Das Grau evoziert eine Art Materie, die die kleinen schwarzen Zeichen ideell untereinander verbindet. In dieser Komposition ist alles in Bewegung und verweist von einem Punkt zum anderen, gleichwohl bleibt der Raum in einem harmonischen und glücklichen Gleichgewicht.

 

Vor dem Original, merkwürdigerweise weniger vor den Reproduktionen, habe ich eine ockerfarbene Fläche bemerkt, die sich mehr als die anderen im oberen mittleren Teil des Bildes hervortut).

Zusammen mit einer anderen Fläche weiter unten, enthält jene Fläche in Vergleich zum sonst herrschenden Ocker tatsächlich einen helleren Farbton. Bei der Betrachtung des Originals aus verschiedenen Entfernungen heraus, konnte sich jene Fläche weiterhin behaupten.

Es mag Suggestion sein, aber durch ihre Lage innerhalb der Komposition ließ jene Fläche unvermeidlich an die einheitliche Synthese von Pier and Ocean 5 denken.

       


Nach der Phase der Formstudien - Kirchenfassaden, Meer, Pier und Ozean-Serie (1914-15) – und ihrer Lösung des Problems der Synthese und Einheit des kubistischen Raumes mit Pier and Ocean 5, 1916 kehrt also die Farbe zurück.



 

 

 

4

Composition in Color A, 1917, Oil on Canvas, cm. 45,3 x 50,3

5

Composition in Color B, 1917, Oil on Canvas, cm. 45 x 50


Sie kehrt zurück, und das Grau im Hintergrund, das in 3 zwischen den farbigen Flächen floss, verwandelt sich in zwei folgenden Werken (4 und 5) in ein Weiß.

In diesen beiden neuen Bildern nimmt die Menge an Zeichen ab, letztere nur mehr als sporadische Strichchen, die kontrapunktisch zu den Farbflächen stehen. Zum ersten Mal nehmen in diesen zwei Bildern die Farbflächen klare und deutliche Konturen an. Dies geschieht – wie der Künstler sagen wird - unter dem Einfluss des Malers Bart van der Leck, mit dem Mondrian damals Umgang hatte.

4 zeigt im oberen zentralen Bereich eine große magenta-farbene quadratische Form; im gleichen oberen zentralen Bereich präsentiert 5 eine Reihe von Formen, die eine Art Einheit bilden, die aus einem blauen Quadrat, einem magenta-farbenen Bereich, der durch zwei schwarze Segmente markiert ist, die eine quadratische Proportion unterhalb des blauen Quadrats andeuten, und einer ocker-farbenen vertikalen Form rechts davon besteht. In diesen beiden Kompositionen versucht der Maler, im zentralen Bereich eine Synthese des Raumes auszudrücken, der zufällig um ihn herum schwebt. In diesem Bereich tendiert die Vielfältigkeit zu einer Art Einheit.

 

6

Composition with Color Planes 1, 1917, Gouache on Paper, cm. 48 x 60

7

Composition with Color Planes 2, 1917, Oil on Canvas, cm. 48 x 61,5


Es folgen dann Kompositionen nur mit Farbflächen: (6 and 7). Hier verschwinden die - in 4 und 5 noch sporadisch präsenten - schwarzen Striche gänzlich. Zwischen 1915 und 1917 werden die schwarzen Striche zu Farbflächen.


 

1

2

3

4

6

 

Von 1 bis 6 lässt sich also ein allmählicher Übergang von einem fast ausschließlich "gezeichneten" Raum zu einem gänzlich gemalten Raum beobachten. Aus diesem Grund glaube ich, dass 3 zwischen 2 und den zwei kleinen Bildern 4 und 5 anzusiedeln ist.
Während der Maler den graphischen Aufbau von 2 (der aus 1 stammt) noch überarbeitet, entfalten sich in 3 schon Farbflächen und artikulieren sich dann in 4 und 5 in klaren und deutlichen Umrissen. In 6 und 7 findet sich von der graphischen Struktur der schwarzen Zeichen keine Spur mehr; es bleiben nur Farbflächen. Der Übergang ist in visueller Hinsicht homogen. Daher stimme ich nicht mit denen überein, die 3 vor 2 ansiedeln, nur weil es die Daten anzeigen.

Wahrscheinlich jedoch hat der Künstler 1916 beide Bilder gleichzeitig begonnen, indem er zuerst die große Komposition in Schwarz/Weiß (in Fortsetzung der Reihe Pier und Ozean) entwarf, auf die er längere Zeit verwandte und 1917 beendete, nachdem er 1916 bereits 3 abgeschlossen hatte, das ihn auch in der weiteren Entwicklung ein Stück voranbrachte. Beide Bilder werden also gleichzeitig oder fast gleichzeitig begonnen, doch weist 3 auf der visuellen Ebene eine ausgereiftere Konzeption auf. Wieder einmal zeigt sich, wie wenig aussagekräftig das zeitliche Datum für die Entwicklung des Werkes ist.

 

* * * * *

 

Betrachten wir also die Kompositionen mit reinen Farbflächen. Es handelt sich um eine auf Papier gemalte Gouache (6) und um vier in Öl gemalte Bilder (7, 8, 9, 10).

Von den fünf Werken hat 6 den größten Komplexionsgrad. Hier wechseln die Flächen in drei Farben ständig das Aussehen, wobei sie von horizontalen Rechtecken zu quadratischen Proportionen und zu vertikalen Rechtecken übergehen. Der Raum erscheint als ein heterogenes Ganzes, in dem das einzige beständige Element aus dem orthogonalen Verhältnis und den drei Farben besteht, die in Position, Umfang und Proportion ständig wechseln.


 

Composition with Color Planes 1, 1917

6

Composition with Color Planes 1, 1917, Gouache on Paper, cm. 48 x 60

7

Composition with Color Planes 2, 1917, Oil on Canvas, cm. 48 x 61,5

Die dominierenden Farben in diesen Werken sind wieder Rosa, Blau, Ocker oder Magenta und Dunkelblau, zusammen mit Weiß.
In der Vielfalt von Flächen sind einige gleichfarbig, aber anders proportioniert oder ähnlich in der Form, aber andersfarbig. Manchmal sind sie in Form und Farbe gleich.
Einige sind Rechtecke, die sich wechselweise mehr in die Vertikale oder die Horizontale erstrecken; andere sind Flächen, die sich der quadratischen Proportion annähern. Das Ganze erscheint als eine Vielfalt von Entitäten, die eine Pluralität verschiedener Situationen evozieren.

In 7 zeigen fast alle gelben Flächen ähnliche Proportionen, während die in Blau und hauptsächlich Magenta hier eine größere Variation aufweisen. Manchmal sind zwei oder drei Flächen nebeneinander zu sehen, die in Proportion, Umfang und Farbe gleich sind. Zum Beispiel dort, wo drei gelbe Quadrate in einer vertikalen Reihe angeordnet sind. Etwas ähnliches kann man in 8 beobachten, wo zwei blaue vertikale Rechtecke von gleichem Umfang nebeneinander in einer horizontalen Sequenz angeordnet sind.

Mit der Wiederholung einer gleichen Entität, egal ob Rechteck oder Quadrat, reduziert sich der Grad an Unbeständigkeit, und man hat für einen Augenblick das Gefühl von mehr Konstanz, während sich die umliegenden Flächen schon wieder verändern und sich in Form und/oder Farbe differenzieren.


8

Composition with Color Planes 3, 1917, Oil on Canvas, cm. 48 x 61

9

Composition with Color Planes 4, 1917, Oil on Canvas, cm. 48 x 61

Der Raum dieser fünf Kompositionen kann als Entfaltung und Variation eines konstanten Parameters (der quadratischen Proportion) gelesen werden, das durch allen Wechsel in Farbe, Umfang, Proportion und reziproke Position hindurch in immer anderer Weise erscheint.

In der Tat können auch die - horizontalen oder vertikalen – Rechtecke als aus dem Lot gebrachte "Quadrate" angesehen werden. Im Wesentlich geht es um den Raum von Pier and Ocean 5 gänzlich in Farbe ausgedrückt.

Zwischen 1915 und 1917 öffnet sich der Raum der Farbe, der Anregung von Pier and Ocean 5 folgend, wo sich die einheitliche Synthese weiter oben der Mannigfaltigkeit wieder öffnet. In Pier and Ocean 5 drückt sich die Varietät der Beziehungen am ausgewogensten in einer quadratischen Proportion aus. Im Quadrat erscheint der mannigfaltige Raum für einen Augenblick als einheitlich. In diesen neuen Bildern jedoch stellt sich die quadratische Proportion nicht mehr als einheitliche Synthese der ganzen Komposition (wie in Pier and Ocean 5) dar, sondern nur als Synthese jenes Teils, der sich in dieser besonderen Farbe ausdrückt.
Die Quadrate, die wir in diesen Kompositionen (einheitliche Synthese des Entgegengesetzten auf formaler Ebene) sehen, sind auf der Ebene der Farbe vielfältig.
Eine wirkliche einheitliche Synthese der Komposition, wie die in Pier and Ocean 5, müsste hier nicht nur auf formaler Ebene (quadratische Proportion), sondern auch zwischen den verschiedenen Farben erfolgen.

In 6, 7 und 8 sind die Flächen voneinander getrennt, während sich in 9 und in 10 einige Flächen verbinden.

In 9 sehen wir Flächenpaare in Blau und Ocker, Blau und Rosa (oben links), Ocker und Rosa (unten rechts).

 

In 10 stehen Flächen in Ocker und Rosa oder Rosa und Blau zusammen.

Mit der Verbindung der Flächen scheint Mondrian die Farben verbinden zu wollen, um einen größeren Kohäsionseffekt zwischen den Teilen zu erzielen.
Von allen Kompositionen stellt 10 den synthetischsten Raum dar: eine kleinere Anzahl an Farbflächen, die größere und homogenere Proportionen entwickeln. Auch die Farbtönungen werden zarter. In Vergleich zu 6 reduziert sich hier das Gefühl der Variation und Komplexität und zwar sowohl auf der Ebene der Form als auch der Farbe. Es ist, als wolle Mondrian in diesem Moment zu einer Gesamtwahrnehmung der Komposition verhelfen. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die erste kubistische Phase: auch damals reduzierte Mondrian angesichts der fehlenden Einheit die Farbpalette.

In 10 ist das Zentrum des Bildes von einem großen ockerfarbenen Quadrat besetzt, das sich mehr als die anderen durchsetzen möchte.

10

Composition with Color Planes 3, 1917, Oil on Canvas, cm. 49 x 61,2

 

In 6 und in 7 sieht man in der Mitte ein weißes Quadrat, um das herum drei Flächen einer selben Farbe gruppiert sind: drei gelbe und eine rote in 6; drei magenta und eine gelbe in 7.

Die drei gleichfarbigen Flächen halten den Raum konstant, ein Vorgang, der sich um eine weiße quadratische Proportion herum abspielt.

Soll uns vielleicht das weiße Quadrat in der Mitte eine ideale Synthese aller Farben suggerieren?

Durch die Zusammenführung einiger Flächen, Reduktion der Menge der Elemente, Abschwächung der Farben und Andeutung möglicher ‚Zentren’ scheint der Maler Synthese und Einheit zu suchen.

 
 

6

7

 

 

 

11

Composition with Color Planes and Gray Lines, 1918, Oil on Canvas, cm. 49 x 60,5

11

Diagram

11: In diesem Bild verbindet Mondrian zum ersten Mal alle Flächen untereinander - Flächen, die in den vorhergehenden Bildern noch frei auf dem weißem Feld fluktuierten. In einem 1941 geschriebenen autobiographischen Aufsatz wird der Künstler sagen: "Da ich die mangelnde Einheit spürte, gruppierte ich die Rechtecke zusammen: Der Raum wurde weiß, schwarz und grau, die Form wurde rot, blau oder gelb. Die Verbindung der Rechtecke kam der Ausweitung der Horizontalen und Vertikalen der vorhergehenden Phase über die ganze Komposition gleich."

Eine interessante Neuigkeit gegenüber den vorhergehenden Bildern besteht darin, dass nun auch das Weiß die Konkretheit einer Fläche annimmt. In den fünf vorhergehenden Bildern schien das Weiß nur die Funktion eines Hintergrundes für die Farbflächen auszuüben. Das Weiß, die sog. „Leere“, das Unsichtbare hat für den holländischen Künstler denselben Rang wie die Farbflächen, das Volle, das direkt und unmittelbar Sichtbare. Dies ist ein Grundgedanke des Mondrianschen visuellen Denkens.

Auch 11 zeigt blaue, rosa-magenta, ocker, graue und weiße Farbflächen, die sich über vertikale Prävalenzen (besonders am rechten und linken Rand) zu ausgewogeneren Proportionen, dann Quadraten und schließlich horizontalen Rechtecken von verschiedener Proportion und Größe entwickeln, die den oberen Rand des Bildes, dort wo einige Flächen über den Bildrand hinausragen, horizontal akzentuieren.
Im mittleren oberen Teil sind zwei übereinander gelagerte Flächen in Blau und Magenta von gleicher Proportion zu sehen.
Ein gleiches Paar quadratischer Flächen wiederholt sich weiter unten, nur dass das Blau diesmal rechts des Rosa zu stehen kommt und die Gesamtgröße des unteren Paars geringfügig kleiner ist als die des oberen. Zwei quadratische Proportionen von verschiedener Farbe verbinden sich in der Mitte. Das Paar, das horizontal im unteren Teil angeordnet ist, verdichtet sich oben in der Vertikale.
Die zwei Flächenpaare drücken einen konstanteren Raumabschnitt aus, indem sich etwas trotz Veränderung erhält. "Ein und dasselbe" erscheint in verschiedener Form; oder zwei verschiedene Dinge sind auf ein ‚selbes’ pattern reduzierbar. Noch einmal deutet die Komposition im Zentrum einen konstanteren Raum an, während es ringsum eine unkontrollierte Variation an Größen, Proportionen und gegenseitigen Kombinationen zwischen verschiedenen Farben gibt. Das Ganze der Komposition entfaltet sich im Wechsel von konstanten Parametern und veränderlichen Entitäten.

 

12 Composition with Grid 3, Lozenge Composition, 1918, Oil on Canvas, Diagonal cm. 121

13 Composition with Grid 4, Lozenge Composition, 1919, Oil on Canvas, Diagonal cm. 85

Doch auch nach Vereinigung der Flächen der vorangegangenen Kompositionen scheint der Maler noch nicht mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Die von Mondrian in den Bildern von 1917 vermisste Einheit scheint in 11 keine Lösung gefunden zu haben. In zwei folgenden Werken (12 und 13) legt der Künstler daher die Farbe erneut beiseite, um sich auf den formalen Aufbau zu konzentrieren.

12: Auf einem rautenförmigen Bild zeichnet der Maler ein lineares Grundschema. Mit parallel zu den Seiten des Quadrats geführten Linien zerteilt Mondrian die Bildfläche in ein Gitter von Grundeinheiten, deren Proportionen dieselben sind wie die des ganzen Bildes. Diese Einheiten sind ihrerseits durch diagonale (in Bezug auf den Betrachter: senkrechte) Achsen unterteilt, die die gesamte Bildfläche durchqueren; in einigen Abschnitten verstärken sich diese Linien.

Das zeigt sich in 13, einer zweiten Komposition des gleichen Genre, am deutlichsten. Die Variierung der Stärke annulliert die Regelhaftigkeit des Schemas und trägt zur Schaffung eines asymmetrischen Rhythmus’ bei. In Vergleich zu 12 gewinnt der irreguläre Rhythmus über das reguläre Schema die Oberhand. Scheint 12 von der Notwendigkeit bestimmt, eine Ordnung zu finden, so scheint 13 ein größeres Gleichgewicht zwischen Ordnung und Veränderung, Regel und Zufall zu herrschen.

 

14

Composition with Grid 5, Lozenge Composition with Colors, 1919,
Oil on Canvas, Diagonal cm. 84,5

15

Composition with Grid 6, Lozenge Composition with Colors, 1919,
Oil on Canvas, Diagonal cm. 68,5

Die stärksten Striche scheinen auf rechteckige Felder anspielen zu wollen, so wie sie auch in den drei folgenden Werken (14 und 15) Gestalt annehmen, in denen Mondrian nach einer Neuordnung der formalen Struktur wieder die Farbe einführt. So kehrt die chromatische Variation des Raumes wieder, nur dass diese nach 12 und 13 von einer gewissen Konstanz der formalen Struktur ausgeglichen wird. Auch in 14 und 15 wiederholt sich das Grundschema, nur dass es nicht mehr so deutlich ausgeführt ist wie in den zwei weiß-schwarzen Rauten. Kaum sichtbar, ist das Schema gleichwohl gegenwärtig und liegt der Artikulation der Farbflächen zugrunde.
Diese sind in der Tat sämtlich auf ein Grundparameter reduzierbar, das aus einem quadratischen Modul besteht, in bezug worauf alle Farbentitäten proportionale Größen annehmen.

Man beachte: Ein kleines Quadrat, Grundeinheit (A), verdoppelt sich und bildet ein vertikales Rechteck (B) oder ein horizontales (C), das durch Verdoppelung ein größeres Quadrat (D) erzeugt. Größere Rechtecke (E und F) werden dann durch die Summe des Quadrats und des kleinsten Rechtecks erzeugt. Das große Rechteck wird von sechs kleinen Quadraten gebildet; das große Quadrat von vier; das kleine Rechteck von zwei. Von den kleineren zu den größeren Flächen und umgekehrt ändert sich der Raum, aber behält etwas Beständiges bei.

Die Komposition entwickelt sich nun nach einem proportionalen Rhythmus und nicht mehr nach dem Zufall wie in Composition with Color Planes and Grey Lines of 1918 (11).
Jede Fläche entsteht jetzt aus der Ansammlung und dem progressiven Wachstum einer gleichen Entität, die, wie Jaffé sagte, "weitere Einheiten zu bilden tendiert".

Eine gleiche Proportion erscheint anders, weil sie von anderer Farbe ist und eine gleiche Farbe erscheint leicht anders, je nach ihrer Proportion und Beziehung zu den umliegenden Teilen.
Ein gleicher Umfang in einer gleichen Farbe erscheint dann einmal horizontal und einmal vertikal. Dadurch wird eine Varietät an Situationen erzeugt, die jedoch auf bestimmte konstante Werte verweisen. Alles ändert sich, aber etwas bleibt bestehen.

Noch einmal, in neuer Form, der übliche Raum mit zwei entgegensetzten Tendenzen: Öffnung zur heterogenen Erscheinung der natürlichen Welt auf der einen Seite und Kontemplation dessen, was verschiedenen Dingen gemeinsam ist auf der anderen Seite. Wenn das Veränderliche vorwiegt (7, 11), sucht der Maler nach Ordnung (13). Und nach ihrer Wiederherstellung öffnet er sich weder dem Veränderlichen (15).


 

1

1915

2

1917

3

1918

4

1919

       

Ich habe gesagt, dass der Raum der fünf Kompositionen, die 2 ähnlich sind, im Wesentlichen der Raum von Pier and Ocean 5 (1) ist, der vollständig in Farbe ausgedrückt ist. Während die heterogene Vielfalt der linearen Relationen in Pier und Ocean 5 eine Synthese mit einem Quadrat erreichte, haben wir es jetzt, da die linearen Relationen zu farbigen Flächen geworden sind, mit einer Vielfalt von Quadraten zu tun, von denen einige gelb, einige rosa und einige blau sind.
Das Quadrat ist in diesen Arbeiten nicht mehr eine einheitliche Synthese der gesamten Komposition (wie in Pier und Ocean 5), sondern nur noch der Teil, der in dieser bestimmten Farbe ausgedrückt wird. Eine authentische einheitliche Synthese der Komposition, wie sie in Pier und Ocean 5 zu sehen ist, müsste in diesen Leinwänden auch zwischen den verschiedenen Farben erreicht werden. Wenn wir die vier obigen Kompositionen in einer Reihenfolge betrachten, können wir von 1 bis 4 sehen, wie Mondrian nun versucht, nicht nur eine Synthese von Horizontale und Vertikale (1), sondern auch eine der drei Grundfarben auszudrücken (4).

 

* * * * *

 

In zwei neue Werke (16 und 17) skizziert Mondrian einen neuen Aufbau, in dem die linearen Segmente von 14 und 15 zu kontinuierlichen Geraden werden, die die ganze Bildfläche durchqueren. Dadurch erscheint die Komposition dynamischer als in 15.

 

Composition with Grid 9, Checkerboard Composition with Light Colors, 1919 Composition with Grid 8, Checkerboard Composition with Dark Colors, 1919

16

Checkerboard Compositon with Light Colors,
1919, Oil on Canvas, cm. 86 x 106

17

Composition with Grid 8, Checkerboard Composition with Dark Colors,
1919, Oil on Canvas, cm. 84 x 102

Ich fang mit Checkerboard Composition with Light Colors (16) an.

Auch hier beginnt der Maler mit einer schematischen Aufteilung des Raumes. Genauer gesagt, teilt der Maler die Bildfläche auf jeder Seite in sechszehn Rechtecke auf, und erhält dadurch 256 Rechtecke gleichen Umfangs, die von gleicher Proportion wie die des Bildes sind. Es entsteht so ein gleichmäßiger Grundaufbau, der je nach dem unvorhersehbaren Wechsel der Farben ein ungleichmäßiges Aussehen annimmt.
Wir sehen hier eine Menge von gelben, roten (ein helles Rot, fast rosa, und das ich jedenfalls rot nennen werde) und blauen Flächen, gemischt mit anderen weißen und grauen Flächen. Zu bemerken sind mindestens drei verschiedene Grautöne. Die Geraden sind von einem dunkleren Grau, das streckenweise fast schwarz wird.
Dazu sagt Jaffè: "Der Maler ließ sich von seinem Farb- und Rhythmusempfinden leiten und fügte während der Arbeit Veränderungen und Verbesserungen hinzu; man kann einige Bereiche bemerken, in denen die Fläche übermalt wurde. Das kostbare Material und das gekonnte Gleichgewicht der Komposition sind nicht das Ergebnis einer Theorie, sondern von fast dreißig Jahren Arbeit."

 

Betrachten wir die Menge der kleinen farbigen Rechtecke, so bemerken wir, dass sich in einigen Bereichen zwei, drei und schließlich vier gleichfarbige Rechtecke miteinander verbinden und größere Einheiten bilden. Wir sehen ein größeres gelbes Rechteck, ein blaues und drei rote.
Auch hier also wie in den vorangegangenen Bildern greift Mondrian wieder auf eine Zusammenstellung von Grundeinheiten zurück, die größere Entitäten erzeugen. Anders als früher jedoch, ist jetzt nicht die ganze Komposition auf den Aggregations- und Wachstumsprozess festgelegt (wie in 14 und 15). Letzterer zeigt sich jetzt auf sporadische und nicht mehr berechenbare Weise.

Außerdem scheinen die größeren Proportionen ein homogenes Feld hervorheben zu wollen, in dessen Innerem der Treffpunkt der entgegengesetzten Richtungen in aller Deutlichkeit erscheint.

Die ganze Komposition ist eine Aufeinanderfolge von aus kleinen, verschiedenfarbigen Rechtecken gebildeten Sequenzen, die in den größeren Rechtecken eine relative Pause einlegen können. In den größeren Einheiten verwandelt sich der flüchtige Gang der Ereignisse (die kleinen Rechtecke) in einen Raum größerer Beständigkeit.

Hat das Auge eine größere Einheit ausgemacht, sucht es spontan nach weiteren, wobei es unweigerlich auf viele andere Situationen trifft, in denen zur Bildung einer homogenen Einheit eine oder zwei Grundeinheiten fehlen, da die anderen von anderer Farbe sind.

Auf der Suche nach größeren Rechtecken einer einzigen Farbe wird unser Blick von der Erscheinungsvielfalt angeregt und betrachtet die virtuell unendliche Kombination von Entitäten, die aus der stets verschiedenen gegenseitigen Kombination derselben Elemente entsteht.
Die durch die schnelle Abfolge kleiner Rechtecke erzeugte Heterogenität geht in den großen Rechtecken, in denen der Raum für einen Augenblick beständiger bleibt, um dann wieder in das Spiel der Kombination zurückzufallen, in größere Homogenität über. Die Bewegung geht vom Flüchtigen, Fließenden, Zufälligen zum Festen und Dauerhaften; und von dort wieder zur zufälligen Abfolge verschiedener Momente.

Wie schon gesagt, besteht die bedeutendste Neuheit dieses Werkes im Vergleich zu den vorangegangenen m.E. in der deutlicheren und ausgewogeneren Art, in der die Opposition zwischen horizontalen und vertikalen Geraden innerhalb eines Feldes homogener Farbe – wie das der großen Rechtecke – sichtbar wird. Sind hingegen die Farben um den Schnittpunkt der Horizontalen und Vertikalen herum verschieden, erweist sich die rechtwinklige Opposition als weniger stabil. In dieser Komposition ist es die Farbe, die ausgewogenere Synthesen der beiden entgegengesetzten Richtungen betont. Was im größeren Rechteck in synthetischer und einheitlicher Form erscheint, das gerät woanders aufgrund der verschiedenen Farben im Umfeld der Schnittpunkte der Geraden aus dem Gleichgewicht. War es in 45 die Form, die mit dem größeren oder kleineren Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen betraut war, so ist es hier die Farbe, die entscheidet, wann Horizontale und Vertikale zur Synthese gelangen. Das erfolgt einmal in Gelb, einmal in Blau und dreimal in Rot.

 

Über die fünf größeren Rechtecke in den drei Primärfarben hinaus sieht man noch ein weißes, in dessen Innerem, wie in den anderen größeren Rechtecken, die schwarzen Geraden ein Äquivalenzzeichen erzeugen. Es handelt sich um das einzige weiße Rechteck von größeren Proportionen innerhalb des Bildes; bezüglich der Seiten besetzt es eine absolut zentrale Position und ist leicht nach oben versetzt. Ich erinnere an die weißen quadratischen Felder, die sich im Zentrum von Composition with Color Planes 1 and Composition with Color Planes 2 (1917) beobachten lassen.

Das weiße Rechteck scheint aus einer fortschreitenden Reinigung der Farben hervorzugehen, die sich an der durch die Mitte des Bildes verlaufenden vertikalen Achse vollzieht. Im Diagramm habe ich ein vertikales Feld markiert, dass, wenn in dynamischer Progression nach oben hin betrachtet, zum weißen Rechteck führt.

All das erinnert an die Entwicklung von Pier and Ocean 5.



Pier and Ocean 5, 1915

 

 

Auch hier, wie 1915, lässt sich eine Progression entlang der mittleren vertikalen Achse der Komposition von unten nach oben hin beobachten, die eine Synthese im mittleren oberen Bereich des Bildes erzeugt.
Wie das Quadrat von Pier and Ocean 5 drückt das weiße Rechteck von Checkerboard with Light Colors eine einheitliche Synthese der Komposition aus. Im weißen Rechteck ses Damebretts finden Horizontale und Vertikale, Weiß und Schwarz in einem homogeneren Feld von beständigerer Räumlichkeit zu einer Einheit zusammen; an diesem Punkt erreicht die ganze Fläche eine Synthese und ein Gleichgewicht der Gegensätze nicht nur auf formaler Ebene (Horizontale/Vertikale), wie in den anderen größeren Rechtecken, sondern auch auf der der Farbe (Weiß/Schwarz). Zur Erläuterung: In dieser Phase unterscheidet der Maler noch zwischen Farbe (Gelb, Rot und Blau) und Nicht-Farbe (Weiß, Grau und Schwarz) und sieht in der ersteren ein plastisches Symbol des Natürlichen und in der zweiten ein Symbol des Geistigen.
Mondrian: "In der Komposition drückt sich das Unveränderliche (das Geistige) im Medium der geraden Linie [unter gerader Linie versteht der Maler das rechtwinklige Verhältnis] oder nicht-farbiger Flächen (schwarz, weiß, grau) aus, während das Veränderliche (das Natürliche) sich im Medium farbiger Flächen und des Rhythmus ausdrückt."

Für den holländischen Künstler evozieren Gelb, Rot und Blau die natürlichsten und lebendigsten Farben der Welt. Mit den drei Primärfarben drückt er Gegensatz und Verschiedenheit aus; mit Weiß, Grau und Schwarz bringt er eine ebenso breite Variation hervor, nur dass diese vergleichsweise homogener erscheint.
Betrachtet man die Grauskala, so erscheint der dunklere Ton genauso dunkel wie das Blau und kommt der hellere Grauton dem Gelb gleich. Es ist, als wäre die Skala der drei Primärfarben in eine parallele Skala von Grau-Farben übersetzt worden, die einheitlicher erscheinen als das Gelb im Vergleich zum Rot oder das Rot im Vergleich zu Blau, eben weil die verschiedene Töne derselben "Farbe" sind.

Man könnte sagen, dass in Checkerboard with Light Colors der Künstler auf der Farbebene nach einem gemeinsamen Nenner sucht. Man denke an das in Composition zwischen den Farben fließende Grau. Man denke aber auch an Kompositionen von 1917-19, in denen Mondrian die Farben zu verbinden schien

Die Farben von Checkerboard with Light Colors müssen also als ein Ganzes gesehen werden, das sich einerseits in einer auffallenden und kontrastreichen Farbskala (die drei Primärfarben) als Symbol der Mannigfaltigkeit der Welt entfaltet – Mannigfaltigkeit, die sich mit der dynamischen Kontinuität der Geraden zugleich als unendliche Ausdehnung ausdrückt - und sich andererseits durch die homogenste Variation der Grautöne innerhalb des Schwarz-Weiß-Gegensatzes, der sich im zentralen Rechteck zusammenfasst, wieder als Synthese verbindet. Durch die Farben des Geistes hindurch erscheint hier die Mannigfaltigkeit der Welt – für einen Augenblick – als eins. Hier ist also noch einmal ein Raum, der einerseits den Reizen der unendlichen physischen Ausdehnung unterliegt (äußere Realität) und andererseits sich auf eine mentale Synthese konzentriert.

Da die Komposition abstrakt ist, repräsentiert sie sowohl die Vielfalt der natürlichen Landschaft als auch die noch dynamischere Vielfalt, die in der Stadtlandschaft wahrgenommen wird.

 

1

1915

2

1917

3

1919

4

1919

       

Wir sehen also, wie der Künstler in diesem Werk von 1919 (4) wieder zu einer gut sichtbaren einheitlichen Synthese des Raumes findet, die sich zum letzten Mal 1915 gezeigt hatte (1). Vier Jahre später gewinnt Mondrian in neuer Form die Einheit wieder zurück, eine Einheit, die sich ab 1915 in die Farbe jener Werke aufgelöst hatte, deren farbige Rechtecke der Einheit ermangelten (2, 3). Nun ist die Einheit wieder sichtbar und drückt sich, im Vergleich zu 1, in einem gänzlich farbigen Raum aus. Vier Jahre hatte es bedurft, um von einem nur gezeichneten (1) zu einem gänzlich gemalten Raum (4) überzugehen.

 

   

Um die weiße Synthese herum befinden sich drei Synthesen in Gelb, Rot und Blau. Es ist, als bemühte sich der Maler in diesem Bereich um eine gegenseitige Annäherung und Verbindung der drei Farben.

Beachten Sie, wie sich gelbe, rote und hellblaue größere Rechtecke um das weiße Rechteck in der Mitte versammeln. Der Maler scheint darauf bedacht zu sein, die drei Farben in diesem Bereich zu versammeln und zu vereinen und damit die Funktion der Synthese, die dem weißen Rechteck zugeschrieben wird, zu bekräftigen.

Oben auf dem weißen Rechteck sehen wir eine noch größere Einheit, die von Rot und Gelb gebildet wird (1) und links davon in einer etwas niedrigeren Position sehen wir ein ähnliches Muster, das von Blau und Rot gebildet wird (2). Dreiundzwanzig Jahre später wird der Broadway Boogie Woogie eine einheitliche Synthese aus Gelb, Rot und Blau in ähnlicher Form präsentieren.

Diese größeren Einheiten aus zwei Grundfarben können jedoch gleichzeitig eine erneute Öffnung der zentralen weißen Einheit zu den Farben ringsum andeuten.
Die weiße Einheit wird nach rechts hin gelb; weiter oben verdoppelt sich das gelbe Rechteck kraft einer roten Synthese, die sich ihrerseits kraft des Blau aufteilt.


   

Sehen wir nun, dass das Weiß sich wieder dem Gelb öffnet; das Gelb dem Rot und dieses letztere dem Blau; die weiße Synthese öffnet sich den Farben und diese kehren wieder in das Vielfältige zurück; die Konstanz im Zentralbereich geht im umliegenden Raum in Vielfalt über.
Wie 1915 auch 1919 die einheitliche Synthese im Bildzentrum eine Wiedereröffnung zum vielfältigen Raum hin andeutet.
Dieselben Elemente können gleichzeitig verschiedene Rollen spielen: einmal nach einem Prozess der Aggregation und einmal der Auflösung.
1919, wie auch 1915, zeigt die im Zentrum erzeugte einheitliche Synthese Anzeichen, sich wieder dem vielfältigen Raum zu öffnen. Ein Raum, der nun ganz aus Farbe besteht. Die vom Geistigen (den "Nicht-Farben") geforderte Einheit öffnet sich wieder für das Natürliche (die Farben).

 

   
     
 

 

Pier and Ocean 5, 1915

 

Checkerboard with Light Colors, 1919

Eine grundsätzliche Neuerung besteht hingegen darin, dass im Vergleich zu Pier and Ocean 5 die Synthese von 1919 über das Mittel der Geraden idealiter mit dem physischen Raum verbunden zu sein scheint – Geraden, die in ihrer Kontinuität über die Bildränder hinauszugreifen scheinen. Die Synthese von 1915 dagegen spielt sich in einem Universum ab, das noch ganz von einem Oval metaphorisch eingefasst ist.

 

 

1

2

3

4

Das Oval, das ab 1913 fast immer präsent war, hat sich also 1917 vollkommen aufgelöst. Nach Pier and Ocean 5 ist das Oval in 1 noch präsent; in 2 ist es noch angedeutet und in 3 kann man eine leichte Spur in der Anordnung der Flächen und der kleinen schwarzen Zeichen erblicken. In 4 ist das Oval schließlich vollständig verschwunden.

 

5

6

7

8

Zusammen mit dieser zunehmenden Auflösung des Ovals sehen wir, dass einige Flächen anfangen, über den Bildrand hinauszugehen (3 und 4).
Während das Oval, einer Forderung der Synthesis nachkommend, ausscheidet, drängt der Maler die Flächen zusammen und kommt dadurch zu Linien (5); dann findet er ein proportionales Modul, durch das die größtmögliche Variation ausgedrückt werden kann, ohne jenen Grad an Beständigkeit aus dem Auge zu verlieren, der erforderlich ist (6 und 7). Auch hier gehen einige Flächen über den Rand der zwei Bilder hinaus, aber in Wirklichkeit erscheint die Komposition eher überfrachtet. In 6 und 7 verkeilen sich die Flächen ineinander; die linearen Segmente schränken sich gegenseitig ein. Der Raum scheint durch seine eigene Entfaltung gebremst.

In 8 öffnet sich also die Komposition dem dynamischen Durchzug der Geraden, die im Unterschied zu den vorhergehenden Kompositionen einen offeneren und kontinuierlicheren, fast unendlichen Raum evozieren. In Wirklichkeit reichen die Geraden, im Original betrachtet, nicht immer bis zum Bildrand heran; vor allem am unteren Rand des Bildes halten die Gerade einige Millimeter davor an. Sicherlich verleihen die Geraden der Komposition Dynamik, doch haben sie noch nicht jene autonome Rolle übernommen, die sie im Laufe der 20er Jahre bekommen werden. Die Geraden, die Mondrian nach 1922 benützen wird, sind stärker und verlaufen von einem Bildrand zum anderen und geben uns den Eindruck, den Bildrand zu überschreiten, um einen sich ins Unendliche ausdehnenden Raum zu evozieren.

Von 1915 bis 1919 verwandelt sich die in einem Oval enthaltene Totalität (Pier and Ocean 5) in eine Gesamtheit von Geraden (Checkerboard with Light Colors), die zwischen dem endlichen Raum des Kunstwerks und dem unendlichen Raum der Realität eine ideelle Verbindung herstellt.

Mit den Geraden, die, wie Mondrian sagt, immer weiterlaufen, scheint der Maler die einheitliche Synthese innerhalb der Komposition (das weiße Rechteck von 8) mit der Totalität des Raumes (das Oval) verbinden zu wollen, der sich in der Zwischenzeit über den Bildrand hinaus erstreckt (3, 4, 5, 6, 7) und mit dem reellen Raum zusammenfällt; Raum, in dem wir alle leben; Raum, von dem das Kunstwerk ein Teil ist, das wiederum für das Ganze stehen will.
Wie Maurizio Calvesi sagt, " (...) ist die Leinwand ein ideelles Zentrum, in dem das räumliche Geschehen sich in seiner Gesamtheit und Totalität nicht weniger als in seiner dynamischen Kontinuität bestimmt“; „die Geraden“, schreibt Mondrian, „schneiden sich, berühren sich tangential, aber laufen immer weiter“ (1920). Tatsächlich strahlt das Ergebnis vom Bild ins Unendliche aus, doch schöpft das Bild die Intuition des Ganzen in sich selbst aus."

 

 

 

Pier and Ocean 5, 1915

 

Checkerboard with Light Colors, 1919

Quadrat und Oval, die 1915 ganz und gar sichtbar nebeneinander bestanden, tun es jetzt virtuell: das Oval ist außerhalb, während ein Quadrat (1915) oder ein weißes Rechteck (1919) innerhalb des Bildes ist, wie um uns daran zu erinnern, dass die ganze Mannigfaltigkeit der Welt eine unauflösliche Einheit ist. Mittels der Geraden, die immer weiter laufen, befindet sich die subjektive Einheit (Quadrat/Rechteck) in ideeller Verbindung mit der angenommenen Einheit des reellen Raumes - jenes unendlichen natürlichen Raums, der, obwohl als simultanes Ganzes (das Oval) nicht mehr darstellbar, im Bewusstsein des Malers weiterhin präsent ist.
Die Totalität des Raumes, die sich durch das Oval ausdrückte, drückt sich nun durch die Kontinuität der Geraden aus. Daher schafft Mondrian in den folgenden Werken jeden Rahmen um seine Bilder herum ab.

Hatte das Oval dazu gedient, die Unendlichkeit der Natur im Sinne eines zusammenhängenden Ganzen auszudrücken, war sie doch zugleich in einer zu absoluten Form erschienen. In seiner Beschäftigung mit dem Absoluten und Universalen will Mondrian jedoch vom Relativen und Besonderen ausgehen, d.h. von den realen Lebensbedingungen.

Es bedurfte vier Jahre, um den totalisierenden Raum des Ovals zu sprengen und ihn in neuer Form durch die Kontinuität der Geraden auszudrücken. Das Oval bildete eine Schranke für Mondrians Sichtweise; in den folgenden Jahren, nach Begründung des neoplastischen Raumes, wird der Künstler seine Ablehnung jeglicher runden Form erklären: "so (wurde) die runde kompakte Linie, die keinerlei Beziehung plastisch ausdrückt, durch die gerade Linie in der Dualität der orthogonalen Position ersetzt, die die Beziehung reiner ausdrückt."

Eine weitere Randbemerkung: Einige Forscher haben Mondrians Oval dieser Jahre mit der Symbolik theosophischer Spiritualität, der der Holländer nahe stand, zusammengebracht. Danach sei das Oval als Ei ein Lebenssymbol. Sicherlich haben Kreise und Ovale stets einen allgemeinen Sinn gehabt, was dem Künstlers wohl auch nicht unbekannt gewesen sein dürfte. Dass er jedoch das Oval der theosophischen Symbolik entnommen und es einfach in seine Bilder eingefügt habe, glaube ich nicht. Bei der Wahl des Ovals dürfte er sich vielmehr von visuellen als von literarischen Überlegungen geleitet haben lassen. Auch wenn ihm die theosophischen Abhandlungen sicher nicht fremd waren, so bin ich doch überzeugt, dass sie keinen nennenswerten Einfluss auf die Ausführung seiner Bilder gehabt haben.

Mondrian: "Die alten Weisen stellten die ewige Beziehung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit mittels des Kreuzes dar. Aber weder dieses noch irgend ein anderes Symbol kann das plastische Ausdrucksmittel der abstrakt-realen Malerei sein: Das Symbol stellt nämlich einerseits eine neue Beschränkung dar, andererseits ist es zu absolut."

Malerei, vor allem abstrakte, lässt sich nicht durch literarische Symbole erklären. Nur in der Interpretation der Verhältnisse von Form und Farbe, frei von Schematismen und vorgefassten Meinungen, gibt abstrakte Kunst oder besser: wahre abstrakte Kunst ihre wirkliche Bedeutungen frei. Als Form war das Oval in diesem Moment notwendig. Die literarischen Bedeutungen kommen, wenn überhaupt, a posteriori hinzu und bereichern die Form um jenen Wert, der in ihr noch nicht erkannt worden ist, aber m. E. die wahre Substanz der Malerei ausmacht. Nur von der Form zu reden, scheint reduktionistisch zu sein, doch pulsiert gerade hier das Leben der Kunst. Eine Kunstkritik, die, wie allzu oft, die Bedeutung von Form und Farbe nicht anerkennen will, geht an den wahren Kunstgehalten vorbei und muss diese statt dessen aus verstaubten Buchregalen hervorkramen. Ich denke jedoch, dass das Bild, vor allem in diesem Fall, in sich selbst genug Erklärungen anbietet. Das von Mondrian in diesen Jahren benützte Oval ist, wie jede in der Malerei benützte Form, vor allem eine Frage der Visualität und nicht der Literatur.


* * * * *


Es ist bemerkenswert, wie Mondrian bereits sechs Jahre zuvor ein zentrales Rechteck verwendet hatte, um eine Synthese der Komposition zu suggerieren.


Composition with Grid 9, Checkerboard Composition with Light Colors, 1919

Composition N. II, 1913, Oli on Canvas, cm. 88 x 115

 

 

Rund um das zentrale Rechteck der Komposition N. II sehen wir eine endlose Variation von horizontalen und vertikalen Einheiten, die sich gegenseitig überlagern. Einige eingeschlossene Bereiche (grau markiert) zeigen Versuche eines ausgewogeneren Verhältnisses zwischen den Gegensätzen, das dann im zentralen Rechteck vollständig erreicht wird. Dieser Grundgedanke kommt im Schachbrett mit hellen Farben mit den größeren farbigen Rechtecken zum Ausdruck, in denen die entgegengesetzten Richtungen zwar ein Gleichgewicht erreichen, das jedoch nur ein partielles ist, entweder gelb, rot oder blau, bevor es in das zentrale Rechteck übergeht, das eine Synthese der Gegensätze sowohl in Bezug auf die Form als auch auf die Farbe hervorruft.


* * * * *


Schreiten wir in der Analyse fort und betrachten wir schließlich das zweite Damebrett mit den sog. dunklen Farben (Checkerboard with Dark Colors).
Diese Fassung geht aus demselben formalen Aufbau der Version mit hellen Farben hervor, entwickelt jedoch andere Bedeutungen.

Ich habe diese Version im Laufe meiner Studien immer als später angesehen als die mit hellen Farben, weiß aber eigentlich nicht, welche Mondrian zuerst gemalt hat. Joostens Katalog weist der Version mit den dunklen Farben eine frühere Nummer zu als der mit den hellen Farben, was dafür sprechen würde, dass die helle Version später ist als die dunkle. Ehrlich gesagt, messe ich diesem Punkt wenig Bedeutung bei, da ich es für wahrscheinlich halte, dass der Künstler an den beiden Leinwänden gleichzeitig gearbeitet hat. Mir geht es hier darum, die Aufmerksamkeit auf einige Unterschiede zwischen den beiden Versionen zu lenken, die, unabhängig von der Reihenfolge ihrer Entstehung, die Version mit den dunklen Farben näher an die auf die beiden Schachbrettbilder folgenden Werke stellen.


Composition with Grid 8, Checkerboard Composition with Dark Colors,
1919, Oil on Canvas, cm. 84 x 102

 

Die Flächen sind in Gelb (Goldgelb, fast Ocker), Rot (fast Amarantrot) und Dunkelblau. Die Farbmaterie ist dichter und zarter als die in der hellfarbigen Fassung. In diesem Werk scheint also der Maler der Materie und Farbe, sprich dem, was er überwiegend mit den Natürlichen identifizierte, Priorität einzuräumen.

Zu sehen ist auch hier ein regelmäßiges Schema aus 256 kleinen, umfanggleichen Rechtecken, wie auch ein heterogenes Ganzes von Entitäten, die sich streckenweise verbinden, um größere, gleichfarbige Einheiten zu bilden; zwei sind gelb und zwei blau; das Rot hingegen erreicht nie die Synthese eines größeren Rechteckes. Anders als beim hellen Damebrett, ist in der Fassung mit dunklen Farben nur das vorhanden, was Mondrian in dieser Phase "Farbe“ nannte, während die "Nichtfarbe“ (Weiß und Grau und Schwarz) völlig fehlt. Nur einige kurze Linienabschnitte erscheinen schwarz.

 

Eine einheitliche Synthese wie das weiße Rechteck von der hellfarbigen Version hier nicht mehr zu sehen und auch das ist Zeichen einer Öffnung hin zum Veränderlichen. All das erinnert an den Übergang von Pier and Ocean 5 zu Composition 10 in Black and White, bei dem sich der geordnete Aufbau vom ersten dem Veränderlichen in dem zweiten öffnet. Das lässt, mit Vorbehalt, vermuten, dass die Fassung in dunklen Farben der in hellen Farben gefolgt ist. Aber es gibt auch andere Gründe, die uns zu dieser Vermutung veranlassen; ich werde darauf zurückkommen, nachdem ich das Bild betrachtet habe.

Dem unablässigen Wechsel der Farben folgend, lassen sich einige kleine Rechtecke bemerken, die sich im Zentrum symmetrisch anordnen. Schon vom unteren Bildrand her zeigt sich eine Sequenz, die im Aufstieg nach oben einen regelmäßigen Rhythmus erzeugt. Von unten nach oben sehen wir ein gelbes Rechteck, das sich mit einem blauen abwechselt; dann zwei rote Rechtecke und zwei blaue Rechtecke, während die Symmetrie sich zu den Seiten hin erweitert.

In Damebrett mit dunklen Farben fehlt also eine Einheit des Gegensatzes (Weiß und Schwarz), statt dessen jedoch ist ein Stück Raum zu sehen, der sich, obwohl ganz in Farbe, gegenüber anderen Bildbereichen, die von unkontrollierter Veränderlichkeit charakterisiert sind, als homogener absetzt.
An die Stelle einer einheitlichen Synthese des Gegensätzlichen treten nun die drei Primärfarben, die in ihrer symmetrischen Anordnung jenes Bedürfnis nach Beständigkeit befriedigen, das das Bewusstsein vor der Unbeständigkeit der Welt verspürt, ohne sich jedoch in einer einzigen weißen Fläche, wie in der hellfarbigen Version, zu konzentrieren.

Die einheitliche Synthese von Checkerboard with Light Colors scheint sich hier der Farbe zu öffnen und ringsum auszubreiten. Die schwarzweiße Einheit öffnet sich nun der Vielfalt der Zwischentöne (Gelb, Rot, Blau); die Farben des Geistes öffnen sich den drei Primärfarben, die in der neoplastischen Sprache ein Symbol des Natürlichen sind. In Checkerboard with Light Colors haben wir die weiße Einheit gesehen, wie sie sich den drei umliegenden Farben öffnet.

 

In vollkommen neuer Form und einmal mehr stehen wir vor dem Raum des Pier and Ocean 5. Auch hier nämlich evoziert die Komposition entlang einer zentralen von unten nach oben aufsteigenden Achse eine Progression in Richtung einer bestimmten Ordnung.

 

Man betrachte das größere blaue Rechteck in der oberen Mitte: Auf der linken Seite ist ein Paar kleiner Rechtecke (gelb und rot), das sich auf der rechten Seite identisch wiederholt. Hier scheint der Maler tatsächlich zu versuchen, an Stelle der Synthese in Weiß und Schwarz eine einheitliche Synthese in Gelb, Rot und Blau auszudrücken. Durch die große Symmetrie und die Verbindung der drei Farben zeigt der mittlere Bereich dieser Komposition eine gewisse Tendenz zur Synthese, die jedoch im Vergleich zu der des hellen Damebretts offen bleibt. In diesem Werk durchdringen sich das Eine (sprich das Geistiges) und das Mannigfaltige (sprich das Naturell).

Es versteht sich, dass die symmetrische Anordnung nicht ins Auge springt, sondern aufgesucht, gefunden und minutiös rekonstruiert werden muss. Sie ist jedoch vorhanden und enthüllt sich der aufmerksamen Betrachtung.

Ein andere interessante Seite dieses Werkes besteht im Folgenden:

Es wurde bemerkt, dass sich die Linien der vorhergehenden Bilder schneiden und gegenseitig einschränken, während die Geraden in die zwei Damebretter kontinuierlich werden und den Raum öffnen. Indem sie sich auf dem Bild kreuzen, erzeugen die rechtwinkligen Geraden Flächen, d.h. Bereiche des endlichen Raumes.
Wenn wir die zwei Damebretter gleichzeitig betrachten, können wir feststellen, dass die Geraden in der Fassung mit dunklen Farben weniger kontinuierlich erscheinen als die in der Fassung mit hellen Farben.

 

 

In der letzteren sind die Geraden fast vollkommen gleichförmig, während sie in der Fassung mit dunklen Farben leicht an Stärke variieren und eine andere Farbe annehmen, indem sie von Dunkelgrau-, fast Schwarz- zu Braun- und Ocker-Tönen bis hin zu Gelbtönen übergehen.

 

Das Detail an der Seite zeigt ein vergrößertes Detail, an dem man diese Diskontinuität festmachen kann.

Durch ungleichmäßige Stärke und Farbe scheinen die Geraden des dunklen Damebretts an der endlichen und kontingenten Natur der Flächen mehr teilzuhaben, als in der Fassung mit hellen Farben, wo die Geraden absoluter erscheinen; ihr Raum, kontinuierlich und gleichmäßig, erscheint hier unberührt vom veränderlichen und ungleichmäßigen Raum der Flächen, die durch die Kreuzung der Geraden entstehen. Die diskontinuierlichen Geraden der Fassung mit dunklen Farben scheinen aus endlichen Teilgeraden, d.h. Segmenten, zu bestehen.

Mit diesen Segmenten wird im dunklen Damebrett ein Übergangs- und Kommunikationspunkt zwischen dem virtuell unendlichen Raum der Geraden und der endlichen Dimension der Fläche erzeugt.

 

Im hellen Schachbrett bleibt der formale Aufbau vollständig erhalten, während sich nur die Farbe ändert und einen asymmetrischen Rhythmus erzeugt. In der Form des dunklen Schachbretts macht sich auch ein erster Rhythmus bemerkbar, abzulesen an der unregelmäßigen Abwechslung der Linienstriche.

Ich erinnere daran, dass schon in den zwei Rauten in Schwarzweiß von 1918/19 der Künstler das regelmäßige Schema des formalen Aufbaus gesprengt hatte, indem er die Stärke der Linien variierte. In eben derselben Art und Weise laufen auch im schwarzen Damebrett die Geraden weiter, doch scheinen sie vom unregelmäßigen Rhythmus der farbigen Fläche beeinflusst zu werden. Der Übergang vom unendlichen Raum der Geraden zum endlichen Raum der Flächen trifft auf eine Zwischenphase der diskontinuierlichen Geraden.


1

2

3

4

Auch aus diesem Grunde neige ich zu der Annahme, dass das Damebrett mit dunklen Farben als ein Werk betrachtet werden muss, das dem Damebrett mit hellen Farben nachfolgt, und zwar in dem Sinne, dass es die weitere Entwicklung des Werkes (3 und 4) begründet, eine Entwicklung, in der auch der formale Aufbau asymmetrisch und ein noch deutlicherer Unterschied zwischen linearen Segmente und Geraden merklich wird.
Es kann auch sein, dass Mondrian zuerst die dunkle und dann die helle Version begonnen hat, aber aus dem, was ich sehe und angesichts der weiteren Entwicklung des Werkes betrachte ich die dunkle Version als die spätere.

Mit den zwei Damebrettern bringt der Künstler einen fünfjährigen Prozess zur Vollendung. Mit Damebrett in dunklen Farben formuliert Mondrian zum ersten Mal in befriedigender Weise, was als neoplastisches Vokabular zur Grundlage der weiteren Arbeit werden wird; ein Vokabular, das sich in der Wechselwirkung von Geraden, Segmenten und Flächen zusammenfasst. Von jetzt ab ist Mondrians Malerei wesentlich ein dynamisches Ganzes aus Beziehungen zwischen Geraden, Segmenten und Flächen (farbigen und ‚nicht-farbigen’); zwischen unendlichem Raum (Geraden), der zu endlichem Raum wird (Flächen), um sich dann wieder dem Unendlichen zu öffnen. Die Vielfalt wird Eins und das Eine wird wieder vielfältig. Das Veränderliche wird beständig und kehrt wieder zur Veränderung zurück.
Die Dialektik zwischen Veränderlichem und Beständigem liegt jeder Evolution – ob in Natur oder Gesellschaft – zugrunde.

Der dynamische und vielfältige Aspekt des natürlichen und/oder urbanen Raumes verwandelt sich auf dem Bild in ein synthetischeres und ausgewogeneres Ganzes, um dann wieder zu einem dynamischen Zustand zurückzukehren. Das Bild gilt als Modell des Raumes, der die Disharmonien des realen Raumes und die Harmonien des plastischen Raumes ausbalanciert.


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